Die Dragoner haben es auf uns abgesehen. Schnell, nimm Charles-Henri, roll ihn in eine Decke und geh in den Keller hinunter. Ich werde auskundschaften, ob der Weg frei ist .«

Der unterirdische Gang! Er war ihre letzte Chance. Durch ihn konnte man Kinder und Frauen aus dem Schloß schaffen. Inzwischen mußte man zu Gott beten, daß alle Dragoner das kleine Wäldchen verlassen hatten, in dem sich der Ausgang des Ganges befand.

Sie flog in den Keller hinunter, aber schon, als sie zwischen den Fässern hindurchglitt, drängte sich ihr die schreckliche Gewißheit auf, daß ihnen auch dieser Ausweg verschlossen war. Von der anderen Seite des Pförtchens zum unterirdischen Gang hörte sie dröhnende Schläge und das dumpfe Gewirr von Stimmen. Sie hatten den Fluchtweg gefunden, zweifellos durch die Angaben des Mannes, den sie durch Folterungen zum Sprechen gebracht hatten.

Wie betäubt, das zitternde Nachtlicht in der Hand, starrte sie auf die halb zersplitterte Holzfüllung, die bereits unter den schweren Schlägen nachgab.

Sie stürzte die Treppe hinauf und legte die Riegel vor.

»Bleib hier«, sagte sie zu Lin Poiroux, der mit seinem Bratspieß hinzutrat, »und spicke mir all die stinkenden Tiere, die aus diesem Loch kriechen wer-den.«

»Feuer! Feuer!« schrillte die Stimme Aurélies.

Reisigbündel waren gegen die Mauer gehäuft worden, in den schweren Holzläden zeigten sich knisternd Risse, durch die beißender Rauch drang.

Die kleinen Lakaien kamen aus der ersten Etage herunter. Sie konnten die Angreifer nicht mehr erkennen, und außerdem war ihnen die Munition ausgegangen.

Sie starrten Angélique an, und in ihren Blicken wuchs allmählich das Entsetzen.

»Was sollen wir tun, Frau Marquise?«

»Wir müssen Hilfe holen«, sagte eine Stimme.

»Welche Hilfe?« schrie sie.

Ein Gesang erhob sich, ergreifend in seiner Traurigkeit:

»Empfange uns in Deinem Paradies, o Herr!

Wir haben Dir gedient all unsre Tage .«

Es waren die Hugenotten unter ihren Dienern, die sangen, auch die um ihre Mutter gedrängten Kinder de Cambourg, aus deren armen, kleinen Gesichtern die Angst nach und nach schwand, um einem heiteren Vertrauen Platz zu machen.

Angéliques Haare sträubten sich.

»Nein, nein, nein ...«, wiederholte sie.

Einmal mehr lief sie wie eine Wahnwitzige die Treppe hinauf bis nach oben, bis auf den Turm. Atemlos stützte sie sich auf der engen Plattform ge-gen die Brüstung und starrte nach allen Richtungen in das dichte, überall vom gleichen schrecklichen Scheiterhaufengestank erfüllte Dunkel der Nacht.

»Welche Hilfe? Welche Hilfe?« schrie sie wieder.

Sie wußte nicht einmal, wo sich die Truppen Samuel de La Morinières befanden.

Aus dem Innern des Schlosses drang ein dumpfer, explosionsartiger Laut herauf. Sie glaubte, eine Mauer sei zusammengestürzt, aber es war nur der gemeinsame verzweifelte Aufschrei der unglücklichen Belagerten, als sie der ersten ins Haus dringenden Dragoner ansichtig wurden.

Angélique lief hinunter, beugte sich über das Treppengeländer. Das Erdgeschoß war der Schauplatz eines furchtbaren Durcheinanders. Schreie, Schreie ... Schreie der Diener, die sich erbittert wehrten, Schreie der verfolgten Frauen, Schreie der von brutalen Händen aus der Mitte ihrer Geschwister gerissenen Kinder ... Gebrüll der Soldaten, die Aurélie mit ihrem kochenden Öl übergoß ... das Flehen der Baronin de Cambourg, die mit gefalteten Händen im Salon auf den Knien lag.

Malbrant Schwertstreich hatte einen Stuhl mit schwerer Lehne bei den Beinen gepackt und schlug mit ihm zwei der Angreifer nieder. Schreie der Vergewaltigung, Schmerzensschreie, Todesschreie ... und der Schrei der bluttrunkenen Sieger: »Auf die Piken! Auf die Piken!«

Angélique sah einen Dragoner die Stufen herauflaufen, in den ausgestreckten Armen einen der kleinen Cambourg-Jungen. Sie stürzte ihm entgegen, stieß gegen eine verlassene Muskete. Pulverladung und Feuerstahl lagen daneben. Wie in einem Zustand der Hypnose griff sie nach der Waffe und bereitete sie vor. Sie wußte nicht, wie man eine Muskete lud. Dennoch drehte sich der Soldat, als sie sie hob, zielte und auf den Abzugsbügel drückte, wie eine jäh von ihren Fäden gerissene Marionette und stürzte rückwärts die Treppe hinunter, ein schwarzes Loch anstelle seines Gesichts.

Sie nahm Deckung hinter der Balustrade und schoß weiter auf die roten Röcke, die die Treppe zu ersteigen versuchten, bis zu dem Augenblick, in dem Arme sie von hinten umschlangen und lähmten.

Drei Bilder nahmen ihre Augen noch auf. Sie sah Barbe vorbeilaufen, Charles-Henri an ihren Busen gedrückt. Sie sah das tränenüberströmte Gesicht Ber-tilles, ihrer Dienerin, die sich zwischen den Händen dreier widerlich entblößter Soldaten wand. Sie sah die in die Nacht geöffneten Fenster, durch die man Leichen stürzte. Dann schwand das Bewußtsein dessen, was um sie herum vorging, verdrängt durch die nackte Angst um ihr eigenes Los. Niemals hatte sie eine so animalische Kopflosigkeit gekannt. Selbst damals nicht, als man sie zum Auspeitschen an die Säule gebunden hatte. Damals hatte ihr Geist Leben und Tod beherrscht.

In dieser Nacht war sie nur von einem verzweifelten, blinden Trieb erfüllt, dem zu entgehen, was auf

sie zukam. Und je erbitterter sie sich wehrte, desto mehr wuchs ihre Panik vor der Erkenntnis ihrer Machtlosigkeit. Sie erinnerte sich jener Nacht, in der die Kavaliere des Wirtshauses zur Roten Maske sie über den Tisch geworfen hatten, um sie zu vergewaltigen. Damals war ihr der Hund Sorbonne zu Hilfe gekommen.

In dieser Nacht würde niemand kommen! Die Dämonen würden sich an der unbesiegbaren Frau rächen, die allzuoft ihren Fallen entwischt war. Von überall her tauchten sie auf mit ihren gehörnten Fratzen, ihren roten Höllenlivreen und haarigen Klauen. In dieser Nacht würden sie sie zerstören, sie und den geheimen Zauber, der sie bisher vor Beschmutzungen bewahrt hatte. Allzu oft war sie durch die Flammen der Sünde gegangen, ohne sich verzehren zu lassen. Sie würden aus ihr eine beschmutzte Kreatur wie die andern machen. Niemals mehr würde sie ihrer durch das Strahlen ihres Liebeszaubers spotten.

Stinkender Atem keuchte über ihren hochmütigen Mund, widerliche Mäuler preßten sich auf ihre Lippen, deren ekelhafte Vergewaltigung ihre Schreie erstickte, feuchte Schneckenfinger krochen über ihre Haut, während der Stoff ihres Kleides zerriß.

Ihre Schenkel wurden auseinandergezwungen, rohe Fäuste fesselten Arme und Beine wie mit Eisenbändern an den Boden. Das Fleisch war ihnen ausgeliefert. Obszöne Schreie gellten in ihren Ohren, während sie wie eine Ertrinkende auf dem Grunde eines schwarzen Gewässers in der Überwältigung brutaler Umarmungen erstickte.

Es war ein schlimmerer Anschlag auf sie als ein mörderischer Dolchstoß. Ihr Körper entglitt ihr und wurde zum Objekt der Schande. Unerträgliche Schmerzen durchjagten sie, unterwarfen sie einer reißenden, monotonen Qual, bis zu dem barmherzigen Augenblick, in dem sie in Bewußtlosigkeit versank.

Angélique richtete sich halb auf. Sie lag auf den Fliesen, deren Kälte sie noch auf ihrer Wange spürte. Die Nebel der Morgendämmerung vermischten sich mit den letzten Resten des Rauchs und verhüllten ihre Umgebung. Stumpf, wie betäubt, betrachtete sie ihre geschundenen, verbrannten Hände. Es mußte geschehen sein, als sie mit der Muskete geschossen hatte. Sie hatte es nicht einmal bemerkt. Die Erinnerung kehrte ihr zurück. Sie wollte sich aufrichten und stöhnte. Auf den Knien verharrend, auf beide Hände gestützt, keuchte sie in der Qual der Schmerzen. Das Haar hing ihr ins fleckige Gesicht, und ihre Haltung rief seltsam das Bild jener Frau ins Gedächtnis zurück, die sooft auf den steinigen Pfaden des Rifs gestürzt war, wenn die Kräfte sie verlassen hatten.