Doch um zu töten, brauchte man eine Waffe, und Waffen besaß sie nicht. Insgeheim hoffte sie darauf, daß Tristan ihr eine zustecken würde, aber dazu müßte er die Möglichkeit finden, sich mit ihr in Verbindung zu setzen.

Alle diese Gedanken plagten die junge Frau in den langen Stunden der Unbeweglichkeit hinter den roten Bettvorhängen. Die Geräusche des Schlosses – die Rufe der Posten, die Ablösung der Wachen, die Stimmen der Dienerinnen, militärische Befehle, galoppierende Pferde, Widerhall von Musik – waren die einzigen Ablenkungen Cathérines, die sich zu Tode langweilte. Die ganze übrige Zeit starrte sie auf eine Statue des Erzengels Michael, die auf einem kleinen Tisch gegenüber ihrem Bett stand, und wunderte sich, eine so fromme Statue in dem Zimmer vorzufinden, das La Trémoille seinen kurzlebigen Liebschaften vorbehielt.

Doch dieses reduzierte Leben hatte auch sein Gutes. Es gestattete Cathérine, ihre Kräfte wiederzugewinnen. Einer erzwungenen Ruhe unterworfen, gut genährt und sorgsam gepflegt, fand sie sehr schnell ihre alte Vitalität wieder.

Als der sechste Tag anbrach, entschied sie, daß es jetzt Zeit sei zu handeln. Ein kleiner Vorfall erinnerte sie daran, daß es endlich galt, die Dinge beim Schopf zu packen. Wie sie es an jedem Morgen um die Stunde zu tun pflegte, in der die Schloßbewohner ihr erstes Mahl einnahmen, das heißt also nach der Morgenmesse, brachte die alte Chryssoula (oder war es vielleicht Nitsa?) Cathérine etwas zur Erfrischung: ein Gericht gebratener Täubchen, einen Krug Wein und ein Brot, in welchem Cathérine einen winzigen Streifen zusammengerollten Pergaments fand.

Schnell ließ sie das Röllchen verschwinden, um es vor den scharfen Augen der Alten zu bewahren, und zog es erst hervor, als ihre Wächterin mit dem leeren Geschirr wieder hinausgegangen war. Das Billett enthielt nur drei Worte, aber so drohend in ihrer Prägnanz, daß Cathérine zusammenfuhr. »Vergiß Sara nicht!« stand da geschrieben, und sie begriff, daß es von Gilles de Rais kam, daß der Herr Blaubart die Geduld verlor und in seiner Gier, den fabelhaften Diamanten zu besitzen, gefährlich werden konnte. Was war zu tun, um Sara seinen Klauen zu entreißen? Den Diamanten stehlen? Cathérine hätte es gern getan, wenn es sich lediglich darum gehandelt hätte, Sara zu retten. Aber sie mußte im Schloß bleiben, und außerdem hatte sie keine Ahnung, wo La Trémoille das Juwel aufbewahrte. La Trémoille um die Freilassung Saras bitten? Gewiß, das wäre ohne Zweifel leicht, denn der dicke Kämmerer schien sehr bereit, ihr zu Gefallen zu sein. Hatte er ihr nicht am Abend zuvor eine schöne Goldkette gebracht und ihr zu verstehen gegeben, daß die Zahl und Schönheit der Geschenke, die sie erhalten werde, von ihrem Entgegenkommen abhängen würde? Aber würde Gilles de Rais, wenn man ihm Sara mit Gewalt entrisse, sich nicht rächen, indem er die wahre Identität Cathérines verriete, die von diesem Augenblick an nichts mehr retten könnte?

Ihre Turmkammer und das Eingesperrtsein wurden ihr plötzlich unerträglich. Sie hielt es nicht mehr länger im Bett aus, und als die Alte zurückkam, fand sie sie aufgestanden vor.

»Zieh mich an!« befahl Cathérine. »Ich will hinausgehen!«

Die Alte starrte sie ungläubig an, schüttelte dann den Kopf und deutete auf die einzige Tür der Kammer, die direkt in das riesige, runde Gemach führte, das La Trémoille bewohnte. Cathérine begriff, daß ihre Wächterin nichts ohne Befehl tun würde.

»Dann geh und hole den Herrn!« sagte sie trocken. »Sag ihm, daß ich ihn sprechen möchte.«

Die Bestürzung der Frau erweckte nicht das geringste Mitleid in Cathérine, die nun auf sie zutrat.

»Ich bin stärker als du«, sagte sie in drohendem Ton zu ihr. »Wenn du den Herrn nicht holst, schwöre ich dir, daß ich hinausgehen werde, ob du's willst oder nicht. Und zwar im Hemd, wenn's sein muß!«

Cathérines entschlossene Miene gab den Ausschlag bei der Alten. Sie machte der jungen Frau ein Zeichen zu warten und verschwand eiligst durch die Tür, die sie vorsorglich hinter sich abschloß. Währenddessen trat Cathérine an das kleine Fenster, stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte hinaus. Von ihrem Bett aus, über das sich nun ein schmaler Streifen Sonnenlichts zog, hatte sie nur eine Ecke des Himmels sehen können, wunderbar, tiefblau, und die Luft, die durch den kleinen Spitzbogen hereindrang, war süß und mild.

Von ihrem neuen Beobachtungsposten aus konnte sie einen glitzernden Zipfel des Flusses, ein wenig grünes Gras und einige Bäume der Insel Saint-Jean erhaschen. Ein Vogel flitzte in schnellem Flug über den Himmel, und Cathérine befiel eine wahnwitzige Lust, der düsteren Festung zu entkommen und sich diesem herrlichen Frühling ans Herz zu werfen, ihre plötzlich wiedererwachte Jugend verlangte gebieterisch ihr Recht und fegte für einen einzigen kleinen Augenblick alle Gedanken an Rache, an ihre Aufgabe und an die Sorgen der kommenden Tage hinweg. Oh, nur ein Häuschen am Ufer eines großen Flusses besitzen, mit einem blühenden Garten davor, und dort mit ihrem Söhnchen und dem Vielgeliebten ruhig leben! Warum war dieses einfache Los, das so vielen Frauen beschieden war, ihr für immer verwehrt?

Die Rückkehr der Alten schnitt Cathérines tristen Gedankenfluß ab. Sie trug Kleider auf den Armen. Ein Diener begleitete sie, und Cathérine zuckte vor Freude zusammen, als sie Tristan erkannte.

»Der Herr kann nicht kommen«, sagte er in sachlichem Ton, ohne die junge Frau überhaupt anzusehen. »Er erlaubt, daß du dich anziehst und hinuntergehst, um ein paar Schritte im Hof spazierenzugehen. Aber Chryssoula muß dich begleiten. Du mußt unter ihrer Bewachung bleiben und wieder hineingehen, sobald sie es dir befiehlt.« in die träge Stimme des Flamen schlich sich eine Drohung: »Gib wohl acht zu gehorchen, Zigeunerin, denn es bekommt einem schlecht, wenn man dem Herrn ungehorsam ist!«

Cathérine legte alle wünschenswerte Demut in ihre Haltung und erwiderte bescheiden.

»Ich werde gehorchen, Messire. Der Herr ist gut zu mir. Hat er sonst nichts gesagt?«

Ihre bittenden blauen Augen kreuzten den grauen, unbeweglichen Blick Tristans und gewahrten in ihm ein schnelles Aufleuchten.

»Doch. Er hat große Freude über deinen Wunsch bekundet, wieder ein normales Leben zu führen. Er läßt dir sagen, daß heute abend ein Fest beim König stattfindet, daß du aber zweifellos noch zu schwach seist, um vor dem Hof zu tanzen. Dafür wird der Herr heute nacht nach dem Fest kommen, um sich selbst von deiner glücklichen Gesundung zu überzeugen!«

Ein unangenehmer Schauder glitt über Cathérines Haut. Sie hatte verstanden. Heute abend würde La Trémoille kommen, um die Rechte zu fordern, die er auf sie zu haben glaubte. Und da er nach einer langen, lustigen Abendgesellschaft käme, würde er betrunken sein, das war mehr als sicher, und infolgedessen für Verhandlungsversuche nicht ansprechbar. Die Aussicht hatte nichts Verführerisches an sich, und Cathérine spürte, wie sich ihre Kehle zusammenzog. Inzwischen schritt Tristan, steif und hochmütig, wie es sich für den Bediensteten eines großen Hauses gehörte, der gezwungen war, sich mit niederem Volk abzugeben, zur Tür. Im Augenblick des Hinausgehens wandte er sich um und sagte, die Hand am Türflügel, lässig:

»Ach, ich vergaß! Man hat deine persönlichen Sachen in den Almosenbeutel der Robe getan. Monseigneur ist zu gütig zu einem Mädchen deiner Sorte. Er hat darauf bestanden, daß man dir alles zurückgibt, was dir gehört!«

Die Anwesenheit Chryssoulas hinderte Cathérine daran, sich sofort über die Kleider herzumachen und den Almosenbeutel zu durchsuchen. Alles, was ihr gehörte? Aber sie hatte doch nichts gehabt außer einem zerrissenen Hemd, als sie zu Gilles de Rais gekommen war? Abgesehen von den beiden Fläschchen Guillaumes des Malers natürlich, die sie in einer Tasche auf der Innenseite besagten Hemdes trug und die sie nach ihrem Bad in den weiß-grünen dalmatinischen Umhang gesteckt hatte, den man ihr gegeben hatte und den sie immer noch besaß. Wovon sprach Tristan also?

Nach einem behutsamen Reinigungsprozeß, denn sie hatte den Eindruck, daß ihr Teint seit einigen Tagen etwas heller wurde und helle Stellen sich an ihren Haarwurzeln zeigten, schlüpfte sie in die Kleider, die Chryssoula ihr reichte und die einfach und proper, aber nicht unelegant waren. Eine Robe aus grauem Barchent, ein Hemd aus feinem Linnen, ein plissierter Brustschleier und eine Haube aus weißem Linnen, ein Gürtel und ein ziemlich großer Almosenbeutel aus Leder, der Cathérine seltsam prall vorkam. Offenbar wollte La Trémoille nicht, daß sie auffiel. Sie sollte sich unter die Dienerinnen mischen und in nichts die Aufmerksamkeit der Schloßbewohner erregen.

Als sie den Almosenbeutel an den um ihre Hüften geschnallten Gürtel hängte, zitterten Cathérines Finger ein wenig. Sie verging fast vor Neugier, um so mehr, als die Dicke des Leders es ihr unmöglich machte zu erspüren, was drin war. Aber eine kleine Willensanstrengung genügte, um sich vorzeitige Nachforschungen zu versagen. Sie nahm statt dessen den weiten, ärmellosen Mantel aus feiner schwarzer Wolle, der als letztes ihrer Ausstattung hinzugefügt worden war, legte ihn sich um die Schultern und gab Chryssoula ein Zeichen, daß sie fertig sei. Die Alte öffnete die Tür und ging vor ihr her durch das riesige, prächtige Gemach des Großkämmerers, einen wahren Tempel aus Gold, in dem selbst die Bettvorhänge und die Kissen der Sessel im Widerschein des magischen Metalls glänzten. Dann traten sie auf die schmale Treppe des Schloßturms hinaus.

Dort war es düster, und im Schutze ihres Mantels durchsuchte Cathérine hastig den Almosenbeutel. Er enthielt ein Taschentuch, einen Rosenkranz, einige Geldstücke; dann entdeckten ihre Finger eine kleine Pergamentrolle und schließlich einen Gegenstand, der sie vor Freude erbeben ließ, so daß sie zwei-, dreimal darüber hinstrich, um sich zu vergewissern, daß sie sich nicht irrte: ein Dolch! Der Sperberdolch der Montsalvys! Arnauds Dolch, den sie bei ihren Männerkleidern hatte lassen müssen! Inbrünstiger Dank stieg in Cathérines Herz für Tristan auf. Er hatte an alles gedacht! Er wachte wirklich gut über sie und hatte erraten, daß sie lieber zustoßen würde, als sich dem Großkämmerer hinzugeben!