Mit beschwingten Schritten stieg sie die letzten Stufen der dunklen Treppe hinter Chryssoula hinab, die wie eine Maus vor ihr her trippelte. Sie war frei! Frei, zu leben oder zu sterben, frei, zu töten oder Gnade walten zu lassen! Als sie auf den Hof hinaustrat, sandte sie einen triumphierenden, frohen Blick zum weiten, heiteren Himmel empor, jetzt hatte sie das Mittel, ihren Feind zu schlagen, ihre Rache zu kühlen! Was spielte es für eine Rolle, was danach mit ihr geschah?

Aber sie schwebte noch nicht hoch genug in den Wolken, um nicht brennend gern wissen zu wollen, was in diesem Pergamentröllchen stand. Zweifellos hatte Tristan ihr etwas Wichtiges mitzuteilen. Wie fing man es an, die Botschaft in Ruhe lesen zu können? Erklären, man sei müde und wolle wieder hinaufgehen? Jetzt schon? Das würde vielleicht Verdacht erwecken. Besser, sie wartete noch ein wenig. Eine halbe Stunde mehr oder weniger spielte zweifellos keine Rolle …

Im riesigen Hof des Schlosses wimmelte es von Menschen, die geschäftig durcheinanderquirlten. Eine Kompanie Bogenschützen begab sich zu den Zinnen hinauf, und die Sonnenstrahlen ließen ihre Helme funkeln. Aus dem steil ansteigenden Torgewölbe, das durch ein jetzt hochgezogenes Fallgatter geschlossen werden konnte, tauchten knarrend mit Holz beladene Karren auf, um im Hof entladen zu werden. An ihnen vorbei stiegen Wäscherinnen zum Fluß hinunter, die mit Wäsche gefüllten Körbe kunstgerecht auf den Köpfen balancierend. Neben dem imposanten, aber strengen königlichen Logis erwarteten Jäger, bereits zu Pferd, Falken auf den mit dickem Leder behandschuhten Fäusten, offenbar einen anderen Jäger, zweifellos von hohem Rang, während eine Gruppe plappernder Hofdamen mit spitzen, schleierumwogten Hauben dem Obstgarten zustrebte. Cathérine, die alte Chryssoula auf den Fersen, irrte einen Augenblick inmitten dieses Gewimmels herum und genoß das einfache Vergnügen der Sonne auf ihren Schultern. Der Monat Mai breitete jetzt seine ganze blühende Seligkeit in Gestalt frischer Blumen aus, die den Obstgarten auf der langen, von Mauern umschlossenen Terrasse über der Loire schmückten. Es war, als würfe die Natur endlich den Alpdruck des Winters und des verspäteten Frühlings von sich, als versuche die geschundene Erde des Königreichs, Rache zu nehmen für all die Verwüstungen, die vielen Tränen und das vergossene Blut. Und Cathérine entdeckte mit Erstaunen, daß im Schatten dieser Festung die Rosen noch Knospen trieben. Es war so lange her, daß sie eine Rose gesehen hatte!

Vom durch die niedrige Pforte leuchtenden frischen Grün des Obstgartens angezogen, ging sie sachte darauf zu, als einige von Pagen begleitete Damen herauskamen, in der Mehrzahl junge Mädchen, die Blumenkränze auf ihrem langen, gelösten Haar und gleichartige hellblaue Kleider trugen. Sie umgaben eine große, stolze und prächtige Frau, deren hochmütige Schönheit durch eine prunkvolle Robe aus orange- und goldfarbenem Brokat noch erhöht wurde. Der schwere Stoff schien aus demselben Material gewoben zu sein wie ihr üppiges rötliches Haar. Saphire blitzten an ihrer tiefdekolletierten Brust und der riesigen Haube, die das Haupt königlich krönte. Jedermann machte ihr auf ihrem Wege Platz und grüßte respektvoll. Cathérine hätte diese Frau zweifellos für die Königin persönlich gehalten, wenn sie sie nicht wiedererkannt hätte und ihr Herz nicht sofort vor Bitterkeit angeschwollen wäre. Wie festgenagelt im Staub des Hofes stehend, sah sie mit vor Haß funkelnden Augen der holden, blaugekleideten Schar der die Dame La Trémoille umschwärmenden Ehrendamen entgegen, jene Frau, die es gewagt hatte, Arnaud zu lieben und ihn foltern zu lassen, weil er sie abgewiesen hatte, sie, der Cathérine den Tod geschworen hatte!

Sie merkte, wie Chryssoula unruhig an ihrem Überhang zupfte, aber sie war unfähig, sich von der Stelle zu rühren. Noch nie war Cathérine von einem so rohen, so brutalen Verlangen, zu töten, durchdrungen gewesen.

So starr war ihre Unbeweglichkeit, daß die große, rothaarige Frau auf sie aufmerksam wurde. Sie runzelte die Stirn und rief ihr mit einer herrischen Bewegung zu:

»He! Das Mädchen da! Komm mal her!«

Weder für Gold noch für Silber hätte Cathérine auch nur einen Schritt tun können. Sie war wie versteinert. Nur ihre zornsprühenden Augen lebten noch, doch hinter ihrer Schulter spürte sie, wie Chryssoula zitterte. Eine der jungen Damen des Gefolges mußte die alte Griechin erkannt haben, denn sie murmelte einige Worte ins Ohr ihrer Herrin, deren schöne Lippen sich zu einem verächtlichen Lächeln schürzten, während sie gleichzeitig die Schultern hob.

»Ah, ich verstehe! Wieder eins der Freudenmädchen, mit denen mein Gemahl sich vergnügt! Meinen Segen hat er, wenn er sich in solch schlechter Gesellschaft herumtreibt!«

Und die prächtige Gruppe verschwand im königlichen Logis, ohne sich weiter um Cathérine zu kümmern. Die Alte zerrte so heftig an ihr, daß sie sich schließlich in Bewegung setzte und sich widerstandslos zum Schloßturm führen ließ. Dabei dachte sie, daß sie an dem Tag, an dem sie La Trémoille töten würde, auch noch Zeit finden müsse, sich um seine Frau zu kümmern.

Sie war gerade im Begriff, mit ihrer Bewacherin die niedrige Tür zu durchschreiten, als sie sich plötzlich von zwei kräftigen Händen gepackt fühlte, so daß sie sich einmal um sich selbst drehte. Trotz seiner beschmutzten und abgetragenen bäuerlichen Kleidung erkannte sie Fero und unterdrückte einen Schreckensruf, so verklärt war das Gesicht des Zigeuneranführers.

»Seit Tagen irrte ich um dieses Schloß herum, sinnierte, wie ich in diesen Hof eindringen könnte, weil ich hoffte, dich wiederzusehen, von dir zu hören. Und jetzt sehe ich dich!«

»Geh, Fero«, rief sie. »Du darfst nicht hierbleiben! Die Zigeuner haben hier keinen Zutritt ohne besondere Erlaubnis. Wenn man dich erwischt …«

»Das ist mir gleich! Ich konnte nicht mehr leben, ohne dich wiederzusehen! Das Gift der Liebe ist in mir, Tchalaï, es brennt in meiner Seele und in meinem Blut … und du hast es mir eingeflößt!«

Man konnte sich unmöglich über die Leidenschaft täuschen, die im Blick des jungen Zigeuners loderte. Cathérine war von Entsetzen erfüllt, um so mehr als die alte Chryssoula sich vergeblich bemühte, Feros Hände wegzureißen, und unartikulierte Schreie ausstieß.

»Um Himmels willen, geh! Wenn die Wachen …«

Sie hatte das Wort kaum ausgesprochen, als eine Rotte Bogenschützen herausstürmte, von den Schreien der Alten angezogen. Chryssoula mußte ihnen bekannt sein, denn sie gehorchten ohne Widerrede dem Befehl, den sie ihnen mit zwei Gesten gab. Die eine wies auf Fero, die andere auf das Schloßportal. Von vier stämmigen Kerlen gepackt, wurde der Zigeuneranführer gewaltsam zum Ausgang gezogen.

»Ich liebe dich! Du bist meine Frau! Ich komme wieder!« rief er über die Schulter zurück.

Im nächsten Augenblick war er verschwunden, und Cathérine, trotz allem erleichtert, folgte gehorsam Chryssoula, die Anzeichen großer Erregung von sich gab. Der kurze Spaziergang, den der Herr erlaubt hatte, war für ihren Geschmack allzu ergiebig an beunruhigenden Ereignissen gewesen. Einige Minuten später fand Cathérine sich in ihrer Kammer wieder, doppelt eingeschlossen … aber allein, glücklicherweise allein! Im Nu vergaß sie Fero und nahm die Gelegenheit wahr, den Inhalt ihres Almosenbeutels aufs Bett zu leeren. Sodann griff sie nach der kleinen Pergamentrolle und las, was Tristan geschrieben hatte: »Habt keine Sorge um Sara. Ich weiß, wo sie ist, und wache über sie, wie ich über Euch wache!«

Cathérine stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Diese wenigen Zeilen löschten die Drohung Gilles de Rais' kategorisch aus. Keinen Augenblick hegte die junge Frau Zweifel an Tristans Versicherung. Es steckten in dem seltsamen Stallmeister des Konnetabels de Richemont eine Willenskraft, eine ruhige Stärke, denen sie sich vertrauensvoll unterwarf. Sie hielt den Mann, der, von den Leuten Gilles de Rais' gehetzt, Mittel und Wege gefunden hatte, ihnen nicht nur zu entwischen, sondern sich sogar als Lakai in den Haushalt des Großkämmerers einzuschmuggeln, zu allem fähig. Wenn Tristan L'Hermite Sara unter seinen Schutz nahm, brauchte sie sich keine Sorgen zu machen …

Mit freierem Kopf ließ sie die langweiligen Stunden des Tages an sich vorüberfließen. Ihre Tür öffnete sich nicht mehr, bis die Abendschatten in ihre Kammer gedrungen waren. Dann kam Chryssoula, um die Kerzen anzuzünden und das Abendessen zu bringen, das diesmal jedoch keine Botschaft enthielt. Doch als Cathérine ihr Mahl beendet hatte und die alte Sklavin sich zurückziehen wollte, kam ihre Schwester herein. Beide machten sich an Cathérines Toilette. Sie wurde gewaschen, parfümiert, mit einer Nachtrobe aus feinem weißem Musselin bekleidet, die ihren Körper nur wie in eine leichte Wolke hüllte, und dann sorgsam ins Bett gebracht, dessen Linnenlaken abgezogen und durch purpurrote Seidenlaken ersetzt worden waren.

Alle diese Vorbereitungen ließen die junge Frau erzittern. Sie waren nur zu bedeutungsvoll. Man machte sie zurecht, wie es dem orientalischen Geschmack ihres neuen Herrn am angenehmsten war. Bald würde sich die Pforte, durch die die beiden Frauen jetzt verschwanden, wieder öffnen, um die korpulente, prächtig aufgeputzte Gestalt des Großkämmerers einzulassen. Als sie an den grobschlächtigen, widerlich fetten Körper dachte, der sich über sie wälzen würde, wurde Cathérine übel, und sie schloß die Augen. Sie vergegenwärtigte sich den schlaffen Mund, die verdorbenen Zähne, den übertrieben parfümierten Bart. Schnell sprang sie aus dem Bett, lief zu ihrem Almosenbeutel, zog den Dolch heraus und schob ihn in Reichweite ihrer Hand unters Kopfkissen. Und schon fühlte sie sich beruhigt. Was hatte sie von nun an noch zu fürchten? Wenn La Trémoille sich über sie würfe, würde der Dolch Arnauds zustoßen, und alles wäre vorbei. Zweifellos käme sie hier nicht lebend heraus … es sei denn, Tristan, der ihr die Waffe in einer bestimmten Absicht übermittelt hatte, hätte für ihre Flucht vorgesorgt. Wenn sie ihn nur einen Augenblick hätte sprechen können! Vielleicht hielt er sich ganz in der Nähe auf, darauf wartend, daß sich in dieser Kammer etwas zutrüge …