»Vier Monate!« sagte Sara näher tretend erstaunt. Es war das erstemal, daß Cathérine solche Sehnsucht nach ihrem Kind bekundete. Sie hatte nie von ihm gesprochen, vielleicht in der Furcht, daß ihr Mut durch das Mitleid mit dem kleinen Jungen und die Erinnerung an ihn nachlassen könne. Doch an diesem Abend glitzerten Tränen in ihren Augen. Und Sara bemerkte, daß sie draußen eine Frau beobachtete, die ein blondes Baby, ungefähr in Michels Alter, in den Armen trug. Diese Frau war jung, frisch, sie lachte und hielt dem Kind ein Cremetörtchen hin, nach dem es begierig die kleinen Hände ausstreckte. Es war ein einfaches, zauberhaftes Bild, und Sara begriff die Sehnsucht, die Cathérines Herz erfüllte. Sie legte der jungen Frau den Arm um die Schultern und zog sie an sich.

»Nur noch ein wenig Mut, mein Herz! Du hast soviel davon bewiesen! Und du bist kurz vor dem Ziel!«

»Ich weiß! Aber ich werde nie wie diese Frau sein … Sie hat bestimmt einen Gatten, weil sie so fröhlich ist! Sie muß ihn lieben. Sieh, wie ihre Augen glänzen … Wenn ich einmal aufhören werde, eine Vagabundin zu sein, dann nur, um mich in ein Schloß einzuschließen und dort einzig für Michel zu leben, zuerst wenigstens; danach, wenn er mich verlassen haben wird, für Gott und in der Erwartung des Todes, wie meine Schwiegermutter gelebt hat …«

Sara spürte, daß sie diesen unheimlichen Nebel zerreißen mußte, der sich nach und nach eisig um Cathérines Herz legte. Man durfte sie sich nicht einer Schimäre hingeben lassen. Sie riß sie vom Fenster weg, zwang sie, sich auf eine mit Kissen belegte Fußbank zu setzen, und brummte bärbeißig:

»Jetzt aber genug! Denk daran, was du noch zu tun hast, und überlaß die Zukunft sich selbst! Gott allein ist ihr Herr, und du weißt nicht, was er dir beschieden hat. Im übrigen, Schluß jetzt damit! Hier ist Messire Tristan!«

Tatsächlich trat der Flame, nachdem er angeklopft hatte, von zwei Dienern begleitet ein, deren einer mit weißen Servietten bedeckte Platten trug, während der andere mit allem Nötigen, Geschirr und Besteck, zum Decken des Tischs beladen war. Im Nu war alles bereit, und die drei Kameraden setzten sich um eine Platte mit Bratwürsten und Bohnen und eine zweite mit Hammelbraten in gelber Sauce, die herrlich duftete. Cathérine, aufgeheitert, spürte, wie ihre düsteren Gedanken sich verflüchtigten, als sie einen Kelch hellen roten Landwein trank, der eine außerordentlich stärkende Wirkung zu haben schien.

Als die Mahlzeit beendet war, stand Tristan, der fast gar nicht gesprochen hatte, auf, um sich zu verabschieden.

»Ich gehe jetzt, Dame Cathérine. Ich muß morgen abend in Parthenay sein, um die letzten Befehle zu empfangen. Ihr bleibt hier. Der König wird morgen eintreffen, aber bei Tagesanbruch werden Messire Prégent de Coétivy und Messire Ambroise de Lore in der Herberge sein, wo sich alle Verschworenen versammeln. Messire Jean de Bueil wird ebenfalls von seinem Schloß Montrésor herunterkommen, vielleicht morgen im Laufe des Tages. Wenn alle da sind, wird man an Ort und Stelle eine Versammlung abhalten können. Hinten im Hof, in dem Felsen, auf dem das Schloß ruht, gibt es ausgezeichnete Keller für den Wein … oder für Verschwörungen. Ihr braucht bloß daran teilzunehmen und aufzupassen. Aber vergeßt nicht: Sobald der König angekommen ist, dürft Ihr Euch nicht mehr draußen sehen lassen! Die Dame de La Trémoille hat scharfe Augen!«

»Seid beruhigt«, erwiderte Cathérine, während sie ihm ein letztes Glas Wein reichte. »Ich habe seit geraumer Zeit meine Ansichten geändert, ich bin nicht völlig verrückt geworden! Zum Wohl! Der Abschiedstrunk!«

Er trank das Glas mit einem Zuge aus, grüßte und verschwand wie ein Schatten.

Der normale Straßenverkehr der Stadt geriet in heftige Bewegung, als am anderen Tag, gegen Mittag, der Zug des Königs in Chinon einritt. Als das Schmettern der Trompeten die friedliche Stille über den Dächern zerriß und alle Glocken zu läuten begannen, hüllte Cathérine trotz aller Mahnungen zur Vorsicht den Kopf in einen Schleier und beugte sich aus dem Fenster, über den dichtgedrängten Köpfen im Grand Carroi sah sie die Banner, die Paniere, die Feldzeichen der Bewaffneten, die Lanzen und Piken, die eisengepanzerte Schwadron der den König umgebenden Ritter, auch er in der Rüstung, und die Sänften, in denen die Königin und das Paar La Trémoille Platz genommen hatten. Es war schon lange her, seitdem ein Pferd den Großkämmerer hatte tragen können. Als sie seine Farben bemerkte, zog Cathérine sich instinktiv vom Fenster zurück.

Obgleich sie sich in dieser Herberge sicher fühlte, konnte sie sich eines heftigen Widerwillens bei der Ankunft ihrer Feinde nicht erwehren. Bis zu diesem Augenblick hatte sie übrigens an ihrem Sieg gezweifelt, und ihre Phantasie hatte ihr eine ganze Menge Hindernisse vorgegaukelt. Doch endlich war der dicke La Trémoille gekommen!

Der Zug überquerte die Kreuzung inmitten des Volkes, das »Heil!« und »Gott schütze Euch!« rief, und verschwand allmählich auf der steil ansteigenden Straße, die zum Schloß hinaufführte. Als das letzte Fuhrwerk mit dem letzten Diener verschwunden war, drehte Cathérine sich mit triumphierenden Augen zu Sara um.

»Er ist gekommen! Ich habe gewonnen!«

»Ja«, lächelte die Zigeunerin, »du hast gewonnen! Jetzt ist es Sache der Ritter der Königin Yolande, das Wild abzuschießen …«

»Aber nicht ohne mich!« rief die junge Frau. »Ich möchte dabeisein, um, falls wir scheitern, das Schicksal der Verschwörer zu teilen. Ich hab' ein Recht darauf.«

Sara erwiderte nichts und machte sich daran, einen Riß in Cathérines Reisemantel auszubessern. Es waren noch keine vierundzwanzig Stunden vergangen, seitdem die beiden Frauen diese Herberge betreten hatten, doch schon drehte und wendete Sara sich unruhig wie ein Tier im Käfig und suchte sich zu beschäftigen. Auch für Cathérine war diese Untätigkeit beschwerlich. Sie verbrachte fast ihre ganze Zeit hinter der Scheibe ihres Fensters und beobachtete den Verkehr auf der Straße. Die Stunden verrannen zu langsam für ihre Ungeduld. Sie hatte zu viel Angst ausgestanden, hatte zu oft am Gelingen gezweifelt, um daran glauben zu können, bevor sie mit eigenen Augen die Ankunft La Trémoilles gesehen hatte. Und jetzt, da er hier war, brannte sie darauf, sich wieder in den Kampf zu stürzen.

Als die Nacht angebrochen war und hoch oben im Schloß, im großen Uhrenturm, die Marie Javelle genannte Glocke, durch deren Schlag das Leben der Stadt seinen Rhythmus erhielt, das Abendgeläut angestimmt hatte, war Stille auf der Straße eingetreten. Cathérine riskierte es, ihr Fenster zu öffnen und sich hinauszulehnen, ohne sich mit einem Schleier zu bedecken. Statt des Schleiers mußte die Nacht genügen, obgleich sie nach Saras Meinung noch viel zu hell war …

Es war wahr. Die Nacht war herrlich, von einem dunklen, zarten und tiefen Blau und von funkelnden Sternen übersät … Eine Nacht, für die Liebe geschaffen, nicht für die Intrige. Gewiß, die Sicht reichte nicht weiter als bis zur gegenüberliegenden Straßenseite, wo festverschlossene Fensterläden und tiefe Stille von dem Schlaf der guten Bürger kündeten, die dort wohnten, eines Helmschmieds, dessen Lärm die Straße den ganzen Tag erfüllte, und eines Apothekers, dessen Erzeugnisse sie mit ihren Düften durchzogen.

Jetzt jedoch, nachdem die Tagesgeräusche verstummt waren, breitete sich über die schlafende Stadt etwas wie ein Mysterium. Cathérine schien es, als befinde sie sich im Inneren eines festen und kostbaren Reliquienschreins, einer Art unverletzlichen Zufluchtsorts, und fragte sich, ob dies nicht auf den Schatten Johannes zurückzuführen sei. Im leisen Plätschern des Flusses, in dem entfernten, fast unhörbaren Gesang der rauschenden Bäume, selbst im Ruch der fruchtbaren Erde, der zu ihr drang, vermischt mit einem vagen Duft von Wasser und Jasmin, glaubte Cathérine noch die helle Stimme des großen Mädchens zu hören, das von so weit hergekommen war und durch ihr flüchtiges Auftauchen ihr Leben wie mit einem unauslöschlichen Siegel gezeichnet hatte … Jehanne! Als sei sie immer noch hier, in dieser befestigten Stadt, die sie nie vergessen würde! Diesen Namen, der im ganzen Königreich aus Furcht vor den Spionen La Trémoilles nur flüsternd ausgesprochen wurde, wagte Chinon auf seinen Straßen laut zu verkünden und bewahrte die Erinnerung an seine Trägerin in jedem seiner Steine … Wenn die Nacht sich herabsenkte, gewann das weiße Phantom wieder Leben und spukte in jedem Haus.

Mechanisch hob Cathérine die Augen zur Milchstraße am Himmel, als suche sie dort den Widerschein einer silbrigen Rüstung.

»Jehanne!« murmelte sie ganz leise. »Helft mir! Weil ich Euch dem Tode habe entreißen wollen, fand ich ein Glück, das ich für unmöglich hielt! Euch verdanke ich's … Gebt, daß die vielen Schmerzen nicht umsonst erlitten wurden! Gebt mir die Liebe zurück, das verlorene Glück …«

Etwas Frisches, Duftendes, das sie am Hals traf, unterbrach ihre Träumerei und führte sie wieder auf den Boden der Wirklichkeit zurück. Unwillkürlich griff sie zu, erwischte den Rosenstrauß in dem Moment, in dem er wieder hinauszufallen drohte, und hob ihn an die Nase. Er duftete herrlich … Sich ins Dunkel der Straße hinausbeugend, suchte die junge Frau festzustellen, woher der Blumengruß gekommen sein mochte, und entdeckte unter dem Vordach des gegenüberliegenden Hauses eine hohe, dunkle Gestalt, die sich langsam aus ihrem Versteck löste.

Aber schon bevor sie voll sichtbar geworden war, wußte Cathérine, wer es war. Langsam schritt Pierre de Brézé in die Mitte der Gasse und blieb dort unbeweglich einige Augenblicke stehen, zu dem Fenster aufblickend, das die graziöse Silhouette der jungen Frau einrahmte. Sie konnte seine Gesichtszüge nicht unterscheiden, aber sie hörte, daß er ihren Namen murmelte.

»Cathérine …!«