Es schlug Mitternacht, als ein leises Kratzen an der Tür die völlig angekleidete Cathérine sich vom Fußende des Bettes erheben ließ, in das sich zu legen sie Sara gezwungen hatte. Rasch ging sie zur Tür, um zu öffnen, und gewahrte eine dunkle Gestalt auf der Schwelle. Im Hause war alles Licht gelöscht, die Küchenfeuer hatten, wie jeden Abend, mit Asche bedeckt werden müssen, doch in den Hof warf der Mond einen milchigen Schein, gegen den sich die Holzpfeiler der Galerie und die Silhouette des Wirtes schwarz abzeichneten. Der Wirt hatte für diese Gelegenheit seine makellos weiße Berufsgewandung mit einem dunklen Wollwams vertauscht. Man hörte keinerlei Geräusch.

Wortlos nahm Agnelet Cathérine an der Hand, führte sie in den Hof hinunter und dort an den Gebäuden entlang, um nicht die helle Fläche überqueren zu müssen, und gelangte so zum rückwärtigen Teil, dessen Begrenzung von dem Felshang gebildet wurde, über dem sich das Schloß erhob. Vereinzelt wuchsen hier Büsche, und ab und zu tauchten dunkle Löcher auf.

»Uralte Höhlenwohnungen«, flüsterte Agnelet, als er sah, daß Cathérine einen Augenblick stehenblieb, um sie zu betrachten. »Einige sind noch bewohnt, andere dienen als Keller, wie bei mir … oder als Zufluchtsort!«

Während er sprach, stieß er eine runde Pforte aus dickem, kreuzweise übereinandergezimmertem Kantholz auf, die einen Grotteneingang verschloß. Nachdem sie die Pforte hinter sich hatten, nahm Agnelet eine Öllampe aus einer Vertiefung des Felsens, schlug Feuer und zündete sie an. Eine große Höhle wurde sichtbar, in den Kreidefels gehauen und mit Gestellen und Fässern jeder Größe ausgestattet. Starker Weingeruch ging von ihnen aus. Böttcherwerkzeuge lagen auf einem Werktisch aufgereiht, neben einem Bottich, in dem sich leere Flaschen befanden. Das Ganze machte einen so gemütlichen Eindruck, daß Cathérine ihren Gastgeber fragend ansah. War das der Hintergrund für eine Verschwörung? Statt einer Antwort lächelte Agnelet, ging bis zur Wand, die den Keller abschloß, und schob ein Faß beiseite, das nicht allzu gewichtig aussah. Eine ovale Öffnung zeigte sich. Sie führte durch die Wand.

»Tretet durch, edle Dame!« sagte der Wirt. »Ich werde das Faß hinter uns wieder an seinen Platz rücken. Dieser Eingang muß verborgen bleiben. Wir befinden uns jetzt unter dem Mittelschloß. Der König schläft genau über unseren Köpfen!«

Ohne Zögern betrat Cathérine einen kleinen, von einer Fackel erleuchteten Gang, an dessen Ende sich ein Raum öffnen mußte. Dieser Gang war nur ein paar Schritte lang, die, einmal zurückgelegt, Cathérine und ihren Führer zum Eingang einer viel größeren Grotte brachten, an deren jenseitigem Ende eine rohe, aus dem kreidehaltigen Fels herausgehauene Treppe emporführte und sich im Schatten des Gewölbes verlor. Auch hier standen einige Fäßchen, aber sie waren umgestülpt, und vier Männer hatten auf ihnen Platz genommen. Sie sprachen kein Wort. Unbeweglich wie Statuen, schienen sie um eine Öllampe herum zu warten. Aber alle drehten sich gleichzeitig nach den Ankömmlingen um.

Neben Pierre de Brézé erkannte Cathérine das rote Haar und das Gesicht ohne Lächeln Ambroise de Lores, die elegante, schmale Gestalt Jean de Bueils, die breiten Schultern und eigenwilligen Züge des Bretonen Prégent de Coétivy und erwies ihnen allen, als sie sich erhoben, eine artige Reverenz. Pierre nahm ihre Hand, um sie zum Kreis der Fässer zu führen. Jean de Bueil empfing sie freundlich, nachdem er Meister Agnelet empfohlen hatte, draußen Posten zu stehen.

»Wir sind glücklich, Madame, Euch wiederzusehen, und noch glücklicher, Euch beglückwünschen zu können. Die Anwesenheit La Trémoilles in Chinon ist der deutliche Beweis Eures Erfolgs. Wir sind Euch sehr verbunden.«

»Dankt mir nicht zuviel, Seigneur de Bueil. Gewiß, ich habe für Euch gearbeitet und für das Wohl des Königreichs, aber ich habe auch für mich und dafür gearbeitet, daß mein vielgeliebter Gatte gerächt werde. Unterstützt mich in dieser Rache, und wir sind quitt!«

Während sie sprach, zog sie sanft die Hand zurück, die Pierre nicht losgelassen hatte, trat auf die drei anderen Männer zu und fügte hinzu:

»Bedenkt, daß es um die Ehre geht … und um das Leben der Montsalvy, Messires! Daß der Name, den ich trage, weiterlebe, dafür muß La Trémoille sterben!«

»Es soll nach Eurem Wunsche geschehen!« warf Coétivy schroff ein. »Aber wie, zum Teufel, habt Ihr's erreicht, dieses Schwein hierherzulocken? Ich gebe zu, daß es schwierig ist, einer schönen Frau wie Euch etwas zu verweigern, aber anscheinend verfügt Ihr noch über Waffen, von denen wir uns nichts träumen lassen.«

Der von dem bretonischen Edelmann angeschlagene Ton war nicht gerade schmeichelhaft und ließ eine ganze Menge Dinge durchblicken. Cathérine täuschte sich nicht darüber. Trocken gab sie zurück:

»Ich glaube in der Tat, nicht ganz dumm zu sein, Messire, aber ich habe mich nicht der Waffen bedient, auf die Ihr anspielt, sondern nur einer Erinnerung … einer Sache, die mein Gatte, Arnaud de Montsalvy, mir einst erzählt hatte.«

Der Name des Verschwundenen tat seine übliche Wirkung. Die Persönlichkeit Arnauds war so mächtig, daß sie alsbald im Geiste dieser Männer wiedererstand, die seine Kampfgenossen gewesen waren, und ihre Ehrerbietung der Frau gegenüber erzwang, die seinen Namen trug und einen so großen Beweis ihres Mutes geliefert hatte. Coétivy errötete, sich seiner Gedanken schämend, und bekannte sich auch ohne Zögern schuldig.

»Verzeiht! Ihr verdient solche Anspielungen nicht!«

Sie lächelte ihn an, ohne zu antworten. Nachdem sie das Fäßchen, das man ihr zuschob, akzeptiert hatte, berichtete sie sodann den aufmerksam lauschenden Männern von ihrer letzten Unterhaltung mit La Trémoille. Sie hörten ihr mit dem erstaunten Ausdruck von Kindern zu, denen man eine schöne Geschichte erzählt. Das Wort ›Schatz‹ verzauberte sie. Dazu kamen die von Mysterien umgebenen Phantome der Tempelritter, phantastische, schattenhafte Gestalten, die sich in ihrer Vorstellung mit den Geheimnissen des Orients verbanden. Etwas belustigt sah Cathérine, wie sich ihre Augen träumerisch verklärten und zu funkeln begannen.

»Inschriften!« murmelte Ambroise de Lore schließlich. »Wenn man nur wüßte, ob sie wirklich existierten …«

»Mein Gemahl hat sie gesehen, Seigneur«, sagte Cathérine leise.

Eine Stimme, die hallend aus dem Kreidegewölbe klang, erklärte:

»Ich auch, ich kenne sie! Aber der Teufel soll mich holen, wenn ich weiß, was sie bedeuten!«

Zwei Männer in Rüstungen stiegen die rohe Treppe herunter, die sich in der Höhe der Grotte verlor. Der erste, barhäuptig, war ein schon bejahrter Mann, dessen besonders kräftige körperliche Verfassung ihn vor dem Altern bewahrte. Cathérine erkannte den Kranz grauer Haare, das füllige Gesicht, die schweren Züge und die inquisitorischen Augen Raoul de Gaucourts, des gegenwärtigen Gouverneurs von Chinon, den sie schon als Gouverneur von Orléans gekannt hatte. Seit bald sechzig Jahren, die Gaucourt auf Erden wandelte, hatte er immer gegen den Engländer gekämpft, der ihn nach der Belagerung von Harfleur, das 1415 von ihm so prächtig verteidigt worden war, ein Jahrzehnt in seinen Gefängnissen gehalten hatte. Er war ein schwerfälliger Mensch, dickköpfig wie die Ochsen seiner Felder, eigensinnig und tapfer, aber nicht ohne Zartgefühl. Dem König blind ergeben, konnte er nicht heucheln. Jehanne d'Arc hatte ihm anfänglich Mißtrauen eingeflößt, und er hatte gegen sie gekämpft, aber Gaucourt war zu grundanständig, um einen Irrtum nicht einzugestehen. Seine Anwesenheit in dieser Nacht im Keller Agnelets war der beste Beweis dafür.

Der Mann, der ihm folgte, war unendlich viel jünger und hagerer. Seine Physiognomie hatte nichts Bemerkenswertes an sich und wäre ohne den unerbittlichen Blick seiner grauen Augen gar nicht aufgefallen. Er war der Stellvertreter des Gouverneurs und hieß Olivier de Frétard. Drei Schritte hinter seinem Vorgesetzten gehend, trug er den Helm, den Gaucourt abgenommen hatte, und schien die Versammlung nicht zu beachten. Doch Cathérine hatte den Eindruck, daß diesem Mann mit den eisigen Augen keine Geste, kein Ausdruck ihrer Gesichter entging.

Inzwischen war Raoul de Gaucourt die Treppe vollends hinuntergestiegen. Er grüßte die Verschwörer mit einer Geste und baute sich vor Cathérine auf. Der Schatten eines Lächelns glitt über sein verschlossenes Gesicht.

»Es bereitet mir unendlich mehr Vergnügen, Madame de Montsalvy in Chinon willkommen zu heißen, als einst in Orléans Madame de Brazey zu empfangen!« sprudelte er ohne lange Vorrede heraus. »Hol' mich der Teufel, wenn ich auf die Idee gekommen wäre, daß Ihr aus Liebe zu Montsalvy in dieses Wespennest gestochen habt! Zumal er alles getan hat, um Euch an den Galgen zu liefern, Euer edler Gemahl!«

Wider ihren Willen errötete Cathérine. Es stimmte. Ohne Johannes Dazwischenkunft, die sie auf dem Weg zum Schafott gerettet hatte, hätte sie ihre Tage am Ende eines Stricks beschlossen, auf Befehl eines Tribunals unter dem Vorsitz Gaucourts, das gegen sie aufzuwiegeln Arnaud nicht müde geworden war. Blind vor Haß, hatte er nur davon geträumt, sich von ihr zu befreien … Trotz dieser schrecklichen Erinnerungen hegte sie keine Bitterkeit. Was blieb, war … jawohl, ein leises Bedauern! Sie hielt dem Blick des alten Mannes unbeirrt stand.

»Werdet ihr mir glauben, Messire, wenn ich Euch sage, daß ich diese Zeit bedaure? Der, der mein vielgeliebter Gatte geworden ist, lebte damals noch in voller Kraft, selbst wenn er diese Kraft gegen mich anwendete. Wie sollte ich es nicht bedauern?« Etwas besänftigte den Blick, mit dem er sie musterte. Plötzlich ergriff Gaucourt ihre Hand, hob sie an die Lippen und ließ sie unsanft wieder fallen.

»Also«, murmelte er, »Ihr seid seine würdige Frau! Und Ihr habt gute Arbeit geleistet! Aber genug der Schmeicheleien! Jetzt. Messieurs, müssen wir unser Unternehmen organisieren. Die Zeit eilt. La Trémoille mag dieses Schloß nicht und wird hier nicht lange bleiben. Wenn ihr einverstanden seid, werden wir morgen nacht handeln!«