»Weil es nicht nötig war. Und weil ich nicht verstand, was Ihr sagen wolltet …«

»Seid Ihr dessen so sicher?«

Oh! Wenn sie das Rätsel dieses verschlossenen Gesichts lösen könnte, dieses einen Auges, dessen Blick dem ihren auswich und sich über ihren Kopf hinweg in den Tiefen des Hofs verlor! Wenn sie diesem Phantom die reine Wahrheit entreißen könnte! … Als sie ihn französisch hatte sprechen hören, hatte Cathérine versucht, aus der Betonung Garins Stimme herauszuhören … und sie hätte unmöglich sagen können, ob es dieselbe Stimme oder eine andere war! … Jetzt hörte sie, wie er ihr mitteilte, daß Don Alonso durch den Einsturz einer kleinen Zedernsäule verletzt worden sei, daß sein maurischer Arzt ihm ein kräftiges Mittel gegeben habe, damit er in Ruhe schlafen könne, daß er aber noch vor dem Einschlafen Fray Ignacio befohlen habe, sich zu vergewissern, daß Dame Cathérine unverletzt sei, und sich persönlich darum zu kümmern, daß die vorgesehene Abreise der jungen Frau durch den nächtlichen Brand keine Verzögerung erfahre und vonstatten gehe, als ob Don Alonso persönlich die Vorbereitungen hätte leiten können.

»Don Alonso bittet Euch lediglich, die Erinnerung an ihn in Eurem Herzen zu bewahren, edle Dame … und für ihn zu beten, wie er für Euch beten wird!«

In einer plötzlichen Anwandlung von Stolz richtete Cathérine sich auf. Wenn dieser Mann wirklich Garin war, wenn er Theater spielte, dann spielte er hervorragend. Sie wollte ihm nicht nachstehen.

»Bestellt Seiner Hoheit, daß ich es daran nicht fehlen lassen werde und daß die Erinnerung an seine Güte mir immer gegenwärtig sein wird. Sagt ihm weiter, wie sehr ich ihm für die mir gewährte Hilfe verbunden bin und daß ich ihm für seine Gebete danke, denn dort, wo ich mich jetzt hinbegebe, werde ich in dauernder Gefahr sein …«

Sie hielt einen Augenblick inne, blickte den schwarzen Mönch scharf an. Nichts! Kein Zucken! Er schien aus Stein gemeißelt, unempfindlich für jedes Gefühl, für das einfachste Mitleid. Er beschränkte sich darauf, sich noch einmal schweigend zu verneigen.

»Was Euch betrifft …«, hob Cathérine mit zornbebender Stimme wieder an – aber sie kam nicht weiter. Wie Gauthier sich vorhin zwischen Tomas und Josses Messer gestellt hatte, trat er jetzt dazwischen und legte der jungen Frau die Hand auf die Schulter.

»Redet nicht weiter, Dame Cathérine. Erinnert Euch, was ich Euch gesagt habe! Kommt! Es ist Zeit zum Aufbruch!«

Diesmal unterwarf sie sich seiner Autorität. Gehorsam drehte sie sich um, trat zu der von Josse und den Tieren gebildeten Gruppe, ließ sich wortlos in den Sattel helfen und wandte sich dem Torbogen zu. Erst als sie durch das hochgezogene Fallgatter ritten, drehte sie sich noch einmal um, fand aber die Sicht durch die breiten Schultern des unmittelbar hinter ihr reitenden Normannen versperrt.

»Seht Euch nicht um!« befahl er. »Ihr müßt Euren Weg gehen, geradeaus … und ohne Euch je wieder umzusehen. Merkt Euch, was ich Euch gesagt habe: Vor Eurem Gott und vor den Menschen seid Ihr die Frau Arnauds de Montsalvy! Alles andere vergeßt!«

Wieder gehorchte sie, sah nach vorn durch den roten Spitzbogen auf das kahle, großartig sich entfaltende Plateau hinaus, doch an Gauthier vorbei hatte sie trotzdem für einen Moment die hohe schwarze Gestalt des Mönchs bemerkt, der, die Hände in den Ärmeln seiner Kutte verborgen, noch immer an der Stelle stand, wo sie ihn verlassen hatte. Streng, rätselhaft blickte er ihr nach … Und Cathérine ahnte, daß dieses Bild sich wie ein Dorn in ihr Herz, in ihr Fleisch bohren würde, an dem sich ihre Liebe unablässig wund reiben mußte – vorausgesetzt, daß es ihr gelänge, ihn wiederzufinden.

Lange und schweigend ritt sie dahin, überließ ihrem Pferd die Zügel. Josse hatte die Führung übernommen und folgte der Straße. Sie ritt mechanisch hinter ihm, ohne etwas von der Landschaft zu sehen, die bereits unter der gnadenlosen Sonne Kastiliens lag. Nach einem mühsamen Anstieg bot sich ihren Augen ein gigantisches Panorama von Ebenen und ockerroten Sierras, da und dort von elenden Dörfern durchsetzt, die, so gut es gehen wollte, dürftige Hanffelder unterhielten. Hin und wieder die gedrungenen Umrisse einer kleinen romanischen Kirche oder die hochmütigen Mauern eines Klosters, manchmal auch ein dürftiges Schloß, dessen Turm auf einem Felsen stand wie ein sehnsüchtiger, auf einem Bein träumender Reiher … Aber Cathérine sah von allem nichts. Sie sah nur vor ihrem inneren Auge die drohende Gestalt eines einäugigen Mönchs, dessen Schweigen sie vielleicht verurteilte. Zu Füßen der Jungfrau von Puy hatte sie gefleht, Gott möge ihr ihren Gatten wiedergeben … Hatte Gott so mit ihrem Herzen, mit ihrer Liebe gespielt? Konnte Gott so grausam sein, den, den sie für tot hielt, ihren Lebensweg wieder kreuzen zu lassen, während sie verzweifelt einen Lebenden wiederzufinden hoffte? Wo war jetzt die Pflicht? Gauthier sagte, sie müsse ihren Weg weitergehen, koste es, was es wolle, ohne zurückzublicken … Aber Gauthier kannte Gott nicht. Und wer konnte wissen, was Gott von ihr, Cathérine, forderte?

Die Bilder Fray Ignacios und Garins standen sich in ihrem Geist jetzt gegenüber. Alles, was sie über ihren ersten Gatten im Gedächtnis bewahrt hatte, kreiste nun um die strenge Gestalt des Mönchs. Garin am Hochzeitsabend, Garin mit haßverzerrtem Gesicht im Schloßturm von Malain, Garin schließlich im Kerker, im Stock, die Augenhöhle offen sichtbar. Trotz der sengenden Sonne glaubte Cathérine, wieder die Feuchtigkeit der finsteren Zelle auf den Schultern zu spüren und den schimmligen Modergeruch zu riechen. Sie sah, jawohl, sie sah, wie Garin ihr sein verletztes Gesicht zuwandte, als sie in die Zelle getreten war. Und plötzlich fuhr sie auf.

»Mein Gott!« murmelte sie. »Das stimmt ja … Warum habe ich denn nicht früher daran gedacht …«

Mitten auf dem einsamen Saumpfad hielt sie ihr Pferd an und blickte von einen ihrer Begleiter zum anderen, die ebenfalls angehalten hatten. Und ganz plötzlich, aus heiterem Himmel sozusagen, brach sie in Lachen aus. In helles, freudig-junges Lachen … ein befreiendes Lachen, das aus tiefstem Herzen kam, die Kehle löste, ihr Tränen in die Augen trieb, ein verrücktes Lachen, das nicht enden wollte und Cathérine zwang, sich auf den Hals ihres Pferdes hinunterzubeugen … Mein Gott, wie komisch das war! … Wie konnte sie nur ein solches Hornvieh gewesen sein, das sie das nicht sofort bemerkt, sich derart darüber aufgeregt hatte? … Nein, das war wirklich die komischste und drolligste Sache, die ihr je vorgekommen war … Sie lachte, sie lachte, bis sie außer Atem war … Und natürlich hörte sie Josse besorgt ausrufen:

»Sie … sie ist übergeschnappt!«

Und der große Pinsel von Gauthier entgegnete im ernstesten Ton der Welt:

»Vielleicht ist es die Sonne! Sie ist sie nicht gewohnt.«

Doch als sie ihr vom Pferd helfen und sie in den Schatten führen wollten, hörte sie ebenso jäh mit Lachen auf, wie sie begonnen hatte. Sie war puterrot vor Lachen, und ihr Gesicht war mit Tränen bedeckt, aber sie warf dem Normannen einen klaren, frohen Blick zu:

»Soeben ist's mir eingefallen, Gauthier! Fray Ignacio fehlt das rechte Auge! … Und mein verstorbener Gatte, der Finanzminister von Burgund, verlor sein linkes Auge in der Schlacht von Nicopolis! Ich bin immer noch frei, verstehst du, frei, mein Recht von der Ungläubigen zurückzufordern!«

»Wollt Ihr Euch nicht ein wenig ausruhen?« wagte Josse vorzuschlagen, der nichts verstanden hatte. Sie überschüttete ihn mit einem neuen Lachanfall.

»Ausruhen? Ihr seid wohl verrückt geworden! Im Gegenteil, im Galopp weiter! Nach Granada! Nach Granada – so schnell wie möglich! Und nun zu uns beiden, Arnaud de Montsalvy!«

Zweiter Teil

Alhambra 

9

Vierzehn Tage später schritten drei Bettler staubbedeckt und in Lumpen gehüllt durch den Hufeisenbogen Bab el-Adrar, die Pforte des Gebirges, inmitten einer dem Markt zuströmenden Menge. Niemand beachtete sie, denn es gab viele Bettler in Granada. Der größte von ihnen, ein wahrer Riese, ging voraus, gab aber keinen Ton von sich. Zweifellos ein Stummer. Dann kam die Frau, doch mit Ausnahme ihrer schmutzigen Füße in den ausgetretenen Pantoffeln sah man unter ihrem schwarzen, abgetragenen Kattun nichts von ihr als dunkle, herrliche Augen. Der dritte, der blind sein mußte, nach seinem zögernden Schritt und der Art zu schließen, wie er sich an die anderen beiden klammerte, war ein schwarzbrauner Trottel, der im Vorübergehen das Mitleid der Passanten zu erregen suchte, indem er mit jammernder Stimme einige Verse des Korans vor sich hin leierte. Auf jeden Fall hätte niemand in dieser jämmerlichen Gruppe die drei munteren, vor vierzehn Tagen aus Coca aufgebrochenen Reiter erkannt … Josse war auf diesen Gedanken gekommen.

»Wenn man uns als Christen erkennt, sind wir verloren!« hatte er zu den beiden anderen gesagt. »Unsere Köpfe werden bald die Mauern von Granada zieren, und unsere Leichen werden den Hunden in den Straßengräben zum Fraß vorgeworfen. Die einzige Möglichkeit, unerkannt durchzukommen, ist als Bettler verkleidet.«

Bei dieser Verwandlung hatte sich der ehemalige Landstreicher als wahrer Künstler erwiesen. Der Hof der Wunder, dem er so lange zur Zierde gereicht hatte, war dafür die beste Schule gewesen. Er konnte ausgezeichnet die Augen verdrehen, bis nur noch das Weiße zu sehen war, und spielte den Blinden bis zur Vollkommenheit.

»Blinde genießen eine gewisse Rücksicht in den Ländern des Islams«, hatte er erklärt. »Man wird uns in Ruhe lassen.«

Was Cathérine betraf, so hatte sie, nachdem sie die Grenze des Königreichs Granada überschritten hatte, nicht genug Augen, um alles zu sehen. Sie hatte inzwischen vergessen, wie schwierig der letzte Teil ihrer Reise gewesen war. Gauthier, Josse und sie hatten aus Toledo fliehen müssen, wo die Pest ausgebrochen war und die Juden wieder einmal die Kosten des Volkszorns zu tragen hatten. Man machte auf sie Jagd, verbrannte öffentlich ihre heiligen Bücher; man nahm ihnen ihr Hab und Gut, und wenn sich Gelegenheit zur Privatrache bot, ermordete man sie unter dem geringsten Vorwand. Die uralte westgotische Stadt, so alt, daß man Adam zu ihrem ersten König ernannte, watete in Blut, so daß Cathérine und die Ihren sich schaudernd davongemacht hatten.