Die Lumpen, die sie und ihre beiden Gefährten bedeckten, hatte Josse von den Leichen gestohlen, auf die sie auf ihrem Weg durchs Gebirge gestoßen waren. Ihr Schmutz hatte der jungen Frau Übelkeit verursacht, aber unter dem schwarzen Kattun fühlte sie sich sicher. Dieses Land, das der Frau nur die Augen zu zeigen gestattete, hatte praktische Bräuche für den, der sie verbergen wollte.
Die Augen fest auf das viele Grün gerichtet, von dem sich die warmgetönten Mauern der Alhambra so gut abhoben, ließ Cathérine sich mit aus Furcht und Hoffnung gleichermaßen klopfendem Herzen mitziehen. Die Kreuzfahrer von einst mußten ähnlich empfunden haben, als sie Jerusalem zu Gesicht bekamen … Inmitten einer gestikulierenden, schreienden Menge, in Blumendüften und Gerüchen nach ranzigem Öl durchschritt sie die erste, ziemlich verlotterte Umwallung. Die zweite schien sehr weit zu sein, jenseits eines Geländes ohne Bäume oder Gebäude, das aber fast ebenso dicht bevölkert war wie ein Marktplatz am Markttag. Dort waren die Getreidehändler, die Kürschner und Kräuterhändler. Maulesel, Hammel, gemächliche Kamele gingen zwischen den im Staub liegenden Ballen umher, auf denen die Muselmänner in ihren erdfarbenen Dschellabas saßen und die Kunden mit lauten Rufen anlockten. Weiter hinten verkaufte man Brennholz, Kohlen, Stroh, Grünfutter. Die zweite, viel höhere Umwallung, die sich durch das hufeisenförmige Tor der Alkazaba zur Stadt hin öffnete, gab dieser Menge, die in sich alle Farben der Erde vereinigte, von Schwarz bis zum brennenden Rot über alle Schattierungen von Braun, Grau, Gelb und Ocker, einen roten Hintergrund. Und dann, wenn man das zweite Tor durchschritten hatte, wurde alles grün. Riesige Mengen Myrrhe, Basilienkraut, Estragon, Lorbeer erfüllten mit ihrem Duft die blaue Luft im Verein mit Körben voller Oliven, Zitronen, Pistazien, Kapern und Ziegenhautschläuchen voller ausgelassener Butter und Honig … Diese rote Stadt, im Kern aus Häusern mit flachen Dächern und nackten, mit Kalk geweißten Mauern bestehend, war wie ein ungeheures Füllhorn, aus dem der Wohlstand floß. Sie erhob sich an der Spitze Europas, Klaue des riesigen, geheimnisvollen und fruchtbaren Afrikas, das sich hinter ihr bis zum Ende des Himmels öffnete. Von den spanischen Eroberungen der schrecklichen Sultane, der Almoraviden oder Almohaden, schwarzverhüllte Männer aus dem Großen Atlas und dem fabulösen Marrakesch, blieb nur noch wenig übrig: dieses Königreich Granada von geringer Ausdehnung, verzuckert und rot wie die Frucht, deren Name es trug, das in sich allein den ganzen Orient und ganz Afrika zusammenfaßte.
»Was für ein märchenhaftes Land!« murmelte Cathérine voll Erstaunen. »Welcher Reichtum!«
»Ihr solltet lieber nicht französisch sprechen«, flüsterte Josse. »Es ist eine wenig bekannte Sprache bei den Mauren! Wir sind jetzt an Ort und Stelle. Habt Ihr eine Ahnung, wo Euer Freund, der Arzt, wohnt?«
»Er hat mir gesagt, sein Haus stehe an einem Fluß …«
Sie stockte, öffnete die Augen weit. In dem schmalen Gäßchen, das sich zwischen den weißen Häusern mit den kahlen Mauern hindurchwand, näherte sich ein Zug. Mit Stöcken bewaffnete Läufer trieben die Hausierer zurück, die die Luft mit ihren Rufen und dem Gebimmel ihrer Glöckchen erfüllten, dann kamen Reiter in weißen Burnussen. Schließlich erschien auf den Schultern von sechs ebenholzschwarzen Sklaven, die bis zum Gürtel nackt waren, eine vergoldete, über den beturbanten Köpfen wie eine Karavelle auf den Wogen segelnde Sänfte. Cathérine und ihre Gefährten hatten gerade noch Zeit, sich an ein Haus zu drücken, um den Stöcken der Läufer zu entgehen, die aus Leibeskräften brüllten. Als die Sänfte an Cathérine vorüberkam, wurden die blauen Musselinvorhänge durch einen Windstoß auseinandergetrieben, und die junge Frau konnte eine auf goldbestickten Kissen liegende und ganz in blaue Schleier gekleidete schlanke, biegsame Gestalt sehen, deren langes schwarzes Haar mit goldenen Zechinen durchflochten war und die hastig einen ihrer Schleier vor das Gesicht zog. Aber die junge Frau hatte Zeit gehabt, die Schönheit dieser Frau, ihr gebieterisches Profil und ihre riesigen schwarzen Augen, ebenso die Juwelen, die ihren Hals zierten, zu bemerken.
»Wer ist diese Frau?« fragte sie in plötzlicher Bangigkeit mit erstickter Stimme. »Sie ist mindestens eine Prinzessin …«
Ohne zu antworten, fragte Josse mit der weinerlichen Stimme, die er sich angewöhnt hatte, einen Wasserträger neben ihnen, wer die Dame in der Sänfte sei. Die Antwort war niederschmetternd. Josse brauchte sie ihr nicht zu übersetzen, denn seit sie über die Pyrenäen gekommen waren, hatte er die Ruhestunden auf ihrem Weg dazu benutzt, der jungen Frau so viel Arabisch beizubringen, wie er verstand. Sie kannte genug davon, um einer leichten Unterhaltung folgen zu können, und hatte genau verstanden, was der Wasserträger gesagt hatte.
»Das ist die kostbare Perle der Alhambra, die Prinzessin Zobeida, Schwester des Kalifen!«
Die Schwester des Kalifen! Die Frau, die ihr Arnaud weggenommen hatte! Weshalb mußte sie gleich bei ihren ersten Schritten in der maurischen Stadt ihrer Rivalin begegnen? Und was für einer Rivalin! … Mit einem Schlag schwand das tiefe Vertrauen, das Cathérine sich auf der langen, endlosen Reise von Puy bis in diese fremde Stadt bewahrt hatte. Die flüchtig erblickte Schönheit ihrer Feindin verlieh ihrer Eifersucht noch eine zusätzliche schreckliche Bitterkeit, einen beißenden Geschmack, der sogar die warme Luft dieses Morgens vergiftete. Cathérine ließ sich gegen die von der Sonne heißgebrannte Wand sinken. Unendliche Müdigkeit, geboren aus der Erschöpfung der vergangenen Tage und dem Schock, den sie soeben empfangen hatte, drückte sie nieder. Große Tränen stiegen ihr in die Augen … Arnaud war für sie verloren. Wie konnte sie nach der blendenden Erscheinung in Gold und Blau, die soeben ihren Blicken entschwunden war, noch daran zweifeln? Der Kampf war von vornherein verloren …
»Sterben!« hauchte sie. »Sofort sterben!«
Obgleich es nur ein kaum merkliches Murmeln gewesen war, hatte Gauthier es gehört. Während Josse, ratlos vor diesem plötzlichen Schmerz, sich daranmachte, einen Hausierer auszufragen, der ›volle, dicke Mandeln und saftige Granatäpfel‹ feilbot, stellte er sich vor die gebrochene junge Frau und riß sie mit harter Faust empor.
»Na und? Was hat sich denn geändert? Warum wollt Ihr sterben? … Weil Ihr diese Frau gesehen habt? Denn die ist es doch, nicht wahr, die Ihr besiegen wollt?«
»Besiegen!« rief sie mit schmerzhaftem Lachen. »Womit besiegen? Dieser Kampf ist unmöglich geworden! Ich war verrückt, als ich glaubte, ich könne ihn wiedergewinnen! Hast du die Prinzessin Ungläubig gesehen? Fortunat hatte recht. Sie ist schöner als der Tag, ich habe keine Chance gegen sie.«
»Keine Chance? Und warum nicht?«
»Erinnere dich doch dieser blendenden Erscheinung! Und schau mich an …«
Er hielt sie im letzten Augenblick zurück, als sie den schwarzen, schmutzigen Kattun herunterreißen wollte, unter dem sie fast erstickte, um ihr Gesicht, ihr blondes Haar zu enthüllen.
»Ihr seid am Ende, aber Ihr müßt Euch zusammennehmen! Man wird schon auf uns aufmerksam! … Dieser Schwächeanfall bringt uns alle in Gefahr! Unsere ungewöhnliche Sprache …«
Er brauchte nicht weiterzusprechen. Durch eine ungeheure Willensanstrengung überwand Cathérine ihre Mutlosigkeit. Gauthier hatte genau das Richtige gesagt, was ihr helfen konnte – hatte ihr klargemacht, daß ihre Haltung sie alle in Gefahr brachte. Übrigens kam Josse jetzt wieder zurück. Der falsche Blinde griff tastend nach der Wand und murmelte:
»Ich weiß, wo der Arzt wohnt. Es ist nicht weit. Zwischen dem Hügel der Alkazaba und den Mauern der Alhambra, am Flußufer. Der Mandelhändler hat mir gesagt: ›zwischen der Brücke des Kadi und dem Hamman, einem großen Haus, wo Palmen stehen …‹«
Ohne ein weiteres Wort brachen sie, sich wieder an den Händen haltend, auf. Die Berührung der rauhen Handflächen dieser Männer belebte Cathérine ein wenig, desgleichen der Gedanke, Abu al-Khayr wiederzusehen. Der kleine maurische Arzt kannte das Geheimnis, wie man mit Zuspruch Trost und neuen Mut einflößt. Viele Male hatten seine fremden philosophischen Lebensregeln sie aus tiefem Kummer, ja sogar aus Verzweiflung, an der sie beinahe gestorben wäre, gerissen!
Plötzlich hatte sie Eile, bei ihm zu sein, sah nichts mehr von der Stadt, die sie noch vor wenigen Augenblicken entzückt hatte. Indessen zogen ihre Gefährten sie in eine recht seltsame, mit Schilfrohrgeflecht überdachte Straße, durch das sich blitzende Sonnenstrahlen stahlen; auf beiden Seiten war sie von kleinen, türlosen Buden eingesäumt, in denen Kupferschmiede arbeiteten. Hammerschläge erfüllten die Gasse mit lustigem Lärm, und im Schatten der Verkaufsstände glänzten sanft die Becken, die Wasserkannen, die Messing- oder Kupferkessel und machten aus jeder kleinen Werkstatt eine Art Schatzhöhle. »Der Markt der Kupferschmiede!« erklärte Josse, aber Cathérine sah und hörte nichts. Unaufhörlich mußte sie an das herrische elfenbeinerne Profil, an die langen dunklen, zwischen dichten Wimpern leuchtenden Augen, an den auf den goldverbrämten Kissen ausgestreckten graziösen Körper denken.
»Sie ist zu schön!« sagte sie sich immer wieder. »Sie ist zu schön!« Diesen kleinen grausamen Satz, der sie folterte, wiederholte sie wie ein lästiges Leitmotiv. Sie murmelte ihn immer noch, als am Rande eines kleinen Sturzbachs, dessen rauschende Wasser hinter seinen Mauern hervorsprudelten, das Haus des Arztes Abu unter den grünen Kronen der Palmen, die aus seiner Mitte herauszuwachsen schienen, vor ihr auftauchte. »Wir sind da!« sagte Gauthier. »Hier ist unser Reiseziel.«
Doch Cathérine schüttelte den Kopf, als sie auf der anderen Seite des Bachs das Felsengebirge sah, auf dem stolz, hoch über ihnen, der rote Palast thronte. Das Ziel stand dort oben … und sie hatte weder Kraft noch Mut mehr, es zu erstürmen.
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