Otto Heinrich Kummer stöhnte zwischen den Händen, mit denen er seinen Kopf hielt. Er ahnte plötzlich, wie nahe der Wahnsinn bei der Wahrheit liegt. Er zitterte bei dem Gedanken, zu le-ben, um stündlich, von Minute zu Minute, im Ticken des Sekundenzeigers, diesem abscheulichen, erbarmungslosen, perversen Ticken der Uhr, sich dem Grabe zu nähern und am Ende des Wan-derns zu sehen: das Leben war schön, aber jetzt, wo der Sprung ins Dunkel, ins ewige Vergehen, in das Ausgelöschtsein beginnt, sinnlos in seiner Hast und seinen Idealen, denn was sind 60 oder 70 oder 80 Jahre, wenn das Dunkel kommt und kein Erinnern, kein Beschauen seines Lebens?! Warum sich quälen, wenn der Lohn der Qual das Nichts ist?
Otto Heinrich Kummer bedeckte die Augen mit den Händen und warf sich auf das Bett des Freundes, das Gesicht in die Decken gepreßt. So lag er eine lange Zeit, bis er sich mühsam aufrichtete, den Brief faltete und an das kleine Lukenfenster trat.
«Man könnte sich vom Dache in den Garten fallen lassen«, dachte er schaudernd und wandte sich ab, wusch sich, kleidete sich an, richtete das Bett, lüftete das Zimmer, alles mit seelenlosen, mechanischen Griffen. Dann steckte er den Brief Bendlers in die Rocktasche, ging die steile, knarrende Treppe hinunter, öffnete die Tür zum Vorderhaus, ging den teppichbelegten Flur entlang, blickte auf halbem Wege in den breiten Trumeau-Spiegel, neben dem zu beiden Seiten Jagdtrophäen verstaubten, und zögerte erst vor der Tür des Wohnzimmers des Prinzipals.
Ein leichter Schritt auf dem Teppich ließ ihn herumfahren.
Trudel schlüpfte aus der Küche, gab ihm einen schnellen Kuß und flüsterte mit einem Blick auf die Zimmertür:
«Der Vater ist wütend! Bendler hat den Laden nicht aufgeschlossen und die Decken vom Schaufenster genommen. Die Gesellen standen vor der Tür und konnten nicht herein. Man dachte in der Stadt schon, es sei etwas geschehen. Und auch du warst nicht da und kommst erst jetzt! Der Vater schiebt die Schuld dir zu: du seiest als Provisor sein Stellvertreter. Er wird schimpfen. «Und plötzlich zuckte die Angst durch ihren Blick.»Denk an gestern nacht, Liebster. Nimm es dem Vater nicht übel. Schweige, ertrage es. es geht vorüber. Denk an uns. Du weißt ja, was mit Vater ist… nicht wahr… du denkst daran?«
Otto Heinrich würgte es in der Kehle. Er nickte, strich ihr über die blonden Flechten, knickte den Zeigefinger und klopfte hart an die Tür.
Ein lautes, herrisches, zorniges» Herein!«tönte durch das Holz. Schnell verschwand Trudel in der Küche.
Mit einem Ruck öffnete Otto Heinrich die Tür und trat ein.
Am Tisch saß zornrot der Prinzipal und hob die Hand.
«Herr Kummer. ich.«
Doch eine Armbewegung Kummers ließ ihn schweigen. Stumm sahen sich die Männer an. Dann sagte Otto Heinrich:
«Willi Bendler ist heute nacht geflüchtet — in die Freiheit!«
Dann drehte er sich brüsk um und verließ den Raum.
Starr sah ihm der Apotheker nach, ungläubig, erschreckt, sprachlos.
Und er starrte noch immer auf die geschlossene Tür, als unten im Laden das Leben begann.
Kapitel 3
Kurz vor Weihnachten, es mag Freitag, der 12. Dezember 1834 gewesen sein, brachte der Postmeistergeselle von Frankenberg einen versiegelten Brief, der mit der Abendpost gekommen war, in das Haus der Apotheker und wurde von dem seit der Flucht Bendlers merklich in sich gekehrten Knackfuß in die Bodenkammer Otto Heinrichs verwiesen.
«Ein Brief für den Herrn Provisor«, sagte der Geselle, als er ins Zimmer trat und den jungen Apotheker lesend und auf der Decke des Bettes liegend antraf.»Ein Brief aus Dresden.«
«Aus Dresden?«Mit einem Satz sprang Otto Heinrich auf und trat dem Boten entgegen, die Arme weit ausgestreckt.»Aus Dresden einen Brief! Welch ein Wunder! Er kommt von meinem Vater Gotthelf Kummer?«
Der Geselle drehte die Siegel vor den Augen und schüttelte den Kopf.
«Es scheint nicht so. Der Herr Absender nennt sich A. von Maltitz.«
«Maltitz? Aus Dresden? — Geben Sie her — das wird eine freudige Nachricht!«Er drückte dem Boten einige Kreuzer in die Hand, nahm den schweren Brief und eilte mit ihm zum Tisch. Mit einem» Gute Nacht, Herr Provisor!«verließ der Postmeistergeselle die Stube und tappte die steile Treppe hinab.
In seiner Kammer entzündete Otto Heinrich eine zweite, kleine Tischlampe, um den Brief mit mühelosem Behagen lesen zu können; dann besah er sich eine gute Weile die roten und blauen Siegel mit dem freiherrlichen Wappen derer von Maltitz.
Der Brief war oft gefaltet, von schwerem breitgerilltem Pergamentpapier und eng beschrieben mit einer zierlichen, fast tänzerischen Schrift.
Er glättete ihn mit beiden Handflächen auf der kleinen Tischplatte, schob die Lampe näher heran, sprang noch mal auf und legte zwei dicke Tannenscheite in den Ofen, um nicht durch ein Verglimmen der entfachten Glut gestört zu werden, und setzte sich dann bequem zurecht, den ersten Brief, den er in Frankenberg erhielt, zu lesen.
«Mein liebster Freund — «
Das war das erste, was er las, und eine tiefe Freude durchrann sein Herz, genannt zu werden wie die wenigen Auserwählten, die wirklich einen Freund fürs Leben fanden und nie bereuten, eine Hand vertrauensvoll gedrückt zu haben.
«Mein lieber Freund!
Sie werden sehr erstaunt sein, von einem Manne ein paar Zeilen zu empfangen, den Sie vielleicht schon längst aus dem Gedächtnis strichen, in dem die wenigen Stunden in Augustusburg nur schemenhaft als eine ferne Erinnerung spuken. Und doch möchte ich heute um Ihr Gehör bitten, weil ich die ganze Zeit über das bestimmte Gefühl nicht zu unterdrücken vermochte, in Ihnen einen Menschen gefunden zu haben, den das Schicksal weit über seine Jahre reifte und der nach bürgerlicher Standmoral so vermessen ist, den Blick zu Sternen zu erheben, die fern dem Wissen unserer breiten Masse schweben.
Ich grüße Sie aus Dresden. Ein wenig Heimatluft müssen diese Zeilen jetzt in Ihre Stube tragen, denn ich hielt den Brief, bevor ich ihn schloß, an der Elbe an den Wind und tränkte ihn mit der würzigen Schneeluft, die von der Vogelwiese zu mir herüberwehte.
Dresden ist eine herrliche Stadt! Es ist eigentlich ein Garten Eden für das die Schönheit begreifende Künstlerauge, und wenn ich durch den mächtigen Zwinger wandere und vom Flachdache auf den Nymphenbrunnen schaue, so scheint es mir, als habe diese Stadt nur noch in Rom und Paris ihre Konkurrentinnen an Ewigkeit und berückender Glückhaftigkeit.
Sie sind in einem Paradies geboren, junger Freund!
Aber nun, mein Liebster, bitte ich Sie um Haltung und um Bezwingung Ihres Herzens. ich war als Gast bei Ihrem Vater.«
Otto Heinrich ließ das Blatt sinken und schloß die Augen. Ein merkwürdiges, bedrückendes Kribbeln zog über sein Herz, drohte den Schlag zu hemmen und ließ ihn schwer und schneller atmen.
Der Vater.
Er sah seine große, kräftige Gestalt vor sich, den strengen Blick, mit dem er, ohne viel zu sprechen, den großen Hausstand dirigierte. Er sah die Mutter, das wertvolle Spitzenhäubchen auf den angegrauten Haaren, durch die Zimmer gehen, die kleine Schwester Anna Luise an der Hand, den Liebling der Familie, dem man alles verzieh, weil es, ein Kind unter Erwachsenen, die Herzen aufriß mit dem Jauchzer ihrer Kindlichkeit.
Otto Heinrich blickte auf. Die blonde Locke war ihm in die Stirn gefallen, sie pendelte vor seinen Augen und behinderte den Blick. Mit einem Schwung des Kopfes schleuderte er sie wieder auf sein Haupt und beugte sich dann erneut über den Brief.
«Ihr Vater ist ein vortrefflicher Mann. Da ich abends kam, lud er mich zur Tafel, wo ich Ihre hochverehrte Frau Mutter und Ihre Geschwister kennenlernte. Mit der kleinen Anna Luise habe ich Freundschaft geschlossen… sie sieht Ihnen so ähnlich, nur hat ihr kleines Auge noch den Funken Freude, der sich bei Ihnen tief ins Herz vergrub. Warum nur, liebster Freund? Das Leben ist nichts wert, schon recht — doch muß es halt gelebt werden. Das ist die Kunst: verachten und doch lieben!
Was rede ich: Ihr Vater fragte mich, er machte sich um Ihre Zukunft mannigfache Gedanken und scheint mit dem Gedanken sehr befreundet, Sie nach dem Ablauf eines Jahres als Provisor an die Hofapotheke nach Dresden zurückzuholen. Er sprach sehr lobend über Sie — fast schien es Stolz —, und er war beglückt, als ich Sie einen Freund und edlen Menschen nannte.
Meinen Namen kannte er! Auch meine >Pfefferkörner< waren ihm geläufig — er fand sie — eine rege Diskussion kam nach dem Essen auf — ein wenig zu vulgär. Man könnte Scharfes auch mit Zucker mischen, Baldrian mit Honig, Würzfleisch mit Marsala! Ich sagte ihm, daß meine Absicht nicht Beruhigung, sondern Aufruf wäre, daß ich das Volk ergreifen wolle, nicht die dünne Schicht der Aristokratie, daß ich — wie Luther — ihnen auf das Maul schaue (ich sagte wörtlich Maul, das imponierte ihm!) und nicht mit der geschraubten Zunge leere Platitüden drechsle. Er sah das ein, mit vielen bürgerlichen Vorbehalten, für die ich, stäke ich in seiner Haut, Verständnis habe — doch schien ihm meine Art, die Dinge nackt und ohne Illusion zu sehen, zu lebensfeindlich, denn Leben — sagte er — ist nicht der Zweck, den Sinn zu erforschen, sondern sich mit den von Gott gegebenen Dingen zu befreunden und sie zu meistern. - Eine gute Lehre! Aber ich verlange mehr vom Menschen: In meinen Augen ist das Leben Kampf,
Kampf um das Ich, für das Ich, wegen des Ichs! Das Leben ist die Essenz einer sich selbst errungenen Moral!«
Otto Heinrich Kummer blickte wieder auf und starrte in die blakende Lampe. Seine Augen schmerzten, er legte die Hände über das Gesicht und lehnte sich zurück.
Leben… hat das Leben eine Moral? Man quält sich sechzig oder siebzig Jahre um Brot und Wasser, man kämpft um dieses Leben, muß ja kämpfen, denn Verhungern ist ein bestialisch harter Tod — und dann kommt aus dem Dunkel ein Schatten an dein Bett, und dieser Schatten spricht und sagt:»Vorbei! Das Leben ist vorbei —! Da staunst du, was? Du kannst's nicht ändern — da hilft dir nichts und niemand, du mußt schon still und brav sein, wenn ich winke. Vorbei, mein Freund — man kann auch sagen: Du mußt sterben. Mußt, hörst du — ob du willst, danach wird nicht gefragt. Man fragte dich ja auch nicht, ob du leben wolltest — warum soll denn das Gehen anders als das Kommen sein?!«
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