»Sie ist ein liebes Gemüt, Klaudine, begeistert für alles Schöne, und sie ist krank, sehr krank. Hörtest du den Husten? Er schnitt mir ins Herz. So hustete sie auch, Klaudine! Oh, diese gräßliche Krankheit! Nein, nein, Klaudine, schon dieses verlöschenden Lebens wegen mag das Eulenhaus ihr offen stehen zu jeder Zeit.«

Die Schwester antwortete nicht mehr. Sie war zu dem Bogenfenster getreten, durch welches rotglühendes Abendlicht strahlte, und schaute mit bangen Augen über die Wipfel der Bäume hinweg. Nein, sie konnte, sie durfte ihm keine neue Sorge aufbürden, durfte ihn nicht beunruhigen. Vielleicht war sie auch erstorben, die blinde, alles vergessende Leidenschaft? Keiner jener heißen Blicke war ihr heute gefolgt, sein Auge hatte sie kaum gestreift. Sie nickte mechanisch mit dem Kopfe, als wollte sie einer inneren Stimme widersprechen. »Doch, vielleicht seine Ritterlichkeit, seine Großmut haben gesiegt, und der Anblick des verlöschenden Lebens –«

Der Bruder war zu ihr getreten und hatte ihre Hand ergriffen. »Macht dich die Einsamkeit traurig, Klaudine?« fragte er weich. »Heute, wo ein glänzendes Streiflicht deines vergangenen Lebens in unser Haus fiel, da erschien es mir so unsagbar armselig, da kam mir der Gedanke, es sei eine Sünde, dich hier zu fesseln.«

»Joachim«, rief sie lachend, aber ihre Augen schimmerten feucht, »wenn du wüßtest, wie gern ich hier bin, wie heimisch, wie traut mir diese Armseligkeit ist, du würdest nie wieder solche Dinge reden! Nein, ich bin nicht traurig, ich bin eigentlich so herzensfroh wie lange nicht. Und nun will ich hinunter und unser Abendessen richten. Es besteht zwar nur aus Blattsalat und weichen Eiern, aber du glaubst nicht, Joachim, wie zart Heinemanns Salat ist.«

Sie hielt ihm die Wange zum Kusse hin und ging, ihm noch einmal zunickend, aus der Tür.

Ein paar Stunden später lag das Eulenhaus schweigend und ruhig, als hätte es der Wald mit seinem Rauschen in den Schlaf gesungen. Nur aus Klaudines Zimmer schimmerte noch Licht. Seine Bewohnerin saß vor dem altmodischen Schreibtischchen, das auf lächerlich dünnen Beinchen sein Gleichgewicht behauptete und einstmals zu der Einrichtung von Großmamas Mädchenstube gehört hatte. Sie hatte mehrere Fächer aufgeschlossen und kramte in Briefen und trockenen Blumen und allerlei Kästen umher. Ja, diese stolze, schöne Hofdame mit dem tadellos kühlen Wesen, sie war doch nur ein Mädchen, wie die anderen auch, ein echtes Mädchen mit zaghaftem Herzen und heimlichem Bangen und Hoffen. Wie hätte sie sonst wohl ein kleines Streifchen Papier, darauf einige Noten geschrieben, mit so tränenschimmernden Augen an die Lippen drücken können, wie sie es eben tat? Es waren nur wenige Reihen flüchtig geschriebener Noten, und darunter standen die Worte: »Willst du dein Herz mir schenken, so fang es heimlich an.« Sie hatte es einst auf Wunsch ihrer alten Hoheit singen sollen, und die Noten hatten gefehlt, und da war einer aus dem gewählten kleinen Kreise aufgestanden, um am Nebentischchen aus dem Gedächtnis die innige Melodie niederzuschreiben, und sie hatte dann das Lied gesungen. Sie fühlte, sie hatte schön gesungen an jenem Abend. Und als sie geendet hatte, sah sie ein Paar Männeraugen, die mit unverhohlener Bewunderung an ihr hingen. Nur dies eine Mal, nie wieder! Es hatte auch kaum eine Sekunde gedauert, dieses Auge-in-Auge, dann senkten sich seine Blicke zur Prinzeß Katharina, neben deren Sessel er stand. Ein ritterlicher Kavalier, stets den Launen seiner Dame mit lächelnder Nachlässigkeit gehorsam! Und die schwarzen, dreisten Augen dieser kleinen Prinzessin hatten ihn so strahlend angeschaut, als wollten sie die Worte wiederholen, aber als Frage: »Willst du dein Herz mir schenken?«

Das war wohl längst aus seinem Gedächtnis geschwunden, sonst würde er nicht, als sie neulich von seiner Liebe zur Musik sprach, so geradezu feindselig geworden sein, und sie hatte doch diesen Abend nimmer vergessen können. Da war es ja auch, wo ein Paar andere Augen zum erstenmal mit jenen heißen, glühenden Blicken die ihren suchten, sie erschreckend bis zum Tode.

»Willst du dein Herz mir schenken?«

Sie sprang empor und ging vom Schreibtisch zum Fenster und wieder zurück in der alten qualvollen Unruhe. Ihre Augen irrten wie hilfesuchend durch das Zimmer, und dann blieb sie doch wieder vor dem Schreibtisch stehen und sah auf das kleine Pastellbild des lieben Frauengesichtes, das dort im reichgeschnitzten Rahmen hing, dessen obere Verzierung den Wappenhirsch zeigte. Der Stern zwischen dem Geweih, der aus Metall hergestellt, blitzte seltsam im flackernden Lichtschein. Ein bitterer, weher Ausdruck flog um ihren Mund.

»Meine Mutter«, sagte sie leise, »wenn du noch lebtest, und ich könnte dir alles erzählen!«

9.

Am anderen Mittag zog ein starkes Gewitter hinter den Bergen empor und entlud sich über dem Paulinental. Der alte Heinemann sah seufzend, wie seine Nelken vom Sturme zerzaust wurden und wie das Wasser auf den Beeten floß, die zarten Wurzeln der frisch gepflanzten Gemüse lockerte und wohl gar dieselben wegschwemmte.

»O Jesus!« seufzte er in der Küche, wo er die Abwäsche besorgte wie ein richtiges Küchenmädchen, »sehen Sie nur, gnädiges Fräulein, das regnet sich fest.« Und er zeigte durch das Fenster nach den tannenbewaldeten Bergen hinüber, wo an einigen Stellen eine weiße Dunstsäule aus den Wipfeln emporstieg. »Der Hirsch raucht sein Pfeifchen, vor drei Tagen hört es nicht auf zu regnen, darauf können Sie sich verlassen. Wenn's dann nur vorbei ist! Aber mitunter regnet es sich so in aller Gemütlichkeit ein. und dann ist's hier trübe.«

Und richtig, so kam es, ein echter Gebirgsregen begann. Auf der abschüssigen Landstraße rieselte das Wasser langsam hinunter, der kleine Waldbach drüben zwischen den Tannen glich einer schmutzigen Lehmbrühe und alle Blumen hingen die Köpfchen.

Die Kleine stand mit ihrer Puppe am Fenster von Fräulein Lindenmeyers Zimmer, drückte sich das Näschen platt an den Scheiben und fragte, wann es wieder aufhöre naß zu sein da draußen. Im Garten sei es schöner. Und die alte Dame saß eifrig strickend daneben und wandte gewohnheitsgemäß den Kopf, um durch die Scheiben nach Vorübergehenden zu spähen, aber vergeblich.

Klaudine machte in der Wohnstube Studien auf der Nähmaschine und bekam vor Freude rote Wangen, als sie die erste tadellose Naht fertig hatte. Ja, die Arbeit, auch die verachtete mechanische weibliche Handarbeit, ist doch ein Segen, sie führt über manche Stunde des Kummers hinweg. Joachim aber saß ganz vertieft über seinen Büchern. Es sei ein rechtes Wetter um zu schaffen, sagte er bei Tische, und sobald er gespeist hatte, ging er wieder an sein Manuskript und hörte und sah nichts mehr.

Am folgenden Tage regnete es noch immer, und am dritten noch mehr. Im Altensteiner Herrenhause sah es ebenso mißmutig aus wie in der Natur, die Herzogin fühlte sich matt und angegriffen und hustete. Das trübe Wetter brachte ihr trübe Zukunftsgedanken. Sie hatte versucht, dieser Stimmung Herr zu werden, indem sie an ihre Schwester Briefe schrieb, aber da waren plötzlich Tränen auf das Papier gefallen, und sie wollte doch nicht, daß die schwergeprüfte junge Witwe in dem Gedanken noch bekümmerter würde. Sie war dann hinunter gestiegen, wo in dem großen Mittelsaal ihre beiden ältesten Söhne Fechtstunde erhielten, und einen Augenblick hatte das kecke Draufgehen der schönen blondhaarigen Knaben sie mit Entzücken erfüllt, dann kam wieder die alte Schwäche über sie und Frau von Katzenstein mußte sie nach ihrem Ruhebette zurückführen. Sie ließ sich nach einem Weilchen den jüngsten Prinzen bringen, ein prachtvolles, gesundheitstrotzendes Kerlchen, das ihr durch sein Erscheinen auf dieser Welt den letzten Rest ihrer Kraft genommen hatte, und sie sah ihm mit seliger Lust in die lachenden blauen Augen. Wie glich er dem Vater, diesem über alles geliebten Manne! Und plötzlich erhob sie sich und schritt, das Kind auf dem Arme, durch das Zimmer der Tür zu.

Frau von Katzenstein und die Kammerfrau stürzten herbei und wollten ihr den kleinen Prinzen abnehmen, sie wehrte lächelnd: »Ich möchte den Herzog überraschen, bleiben Sie, bitte.« Und auf den Zehen schlich sie sich über das spiegelnde Parkett des Salons, der ihre Zimmer von den seinen trennte, und stand hochatmend vor der Tür seines Gemaches.

Es war doch schön, ihn hier in Altenstein so nahe zu haben, zu ihm eilen zu können, wie jede andere glückliche Frau, die dem Vater das Kind zuträgt. Sie nahm das Händchen des Kleinen und ließ es pochen an das Getäfel der Tür. »Papa!« rief sie, »lieber Papa, mach auf, wir sind hier, die Liesel und der Adi!«

Dort innen wurde ein Kasten zugeschoben und gleich darauf die Tür geöffnet. Der Herzog, im schwarzen Samthausrock, erschien auf der Schwelle, offenbar verwundert über diesen Besuch. Am Schreibtisch stand Palmer, er hatte Papiere in der Hand, und auf der Platte des Tisches lagen verschiedene Blätter ausgebreitet.

»O, ich störe, Adalbert?« sagte die junge Frau unter Hüsteln. Das Zimmer durchwogte ein starker bläulicher Rauch türkischer Zigaretten.

»Wünschest du etwas, Elise?« fragte er. »Entschuldige diesen Rauch, er reizt dich zum Husten. Aber komm, ich will dich hinüber geleiten, es ist hier kein Aufenthalt für dich.«

Sie schüttelte langsam das dunkle Köpfchen: »Ich wollte nichts –« und mit einem Blick auf Palmer verschluckte sie die Worte: »ich wollte dich nur sehen, dir das Kind bringen.«

»Nichts?« wiederholte er, und eine leise spöttische Ungeduld sprach sich aus in der Bewegung, mit der er ihr den Kleinen abnahm. »Aber, vor allen Dingen komm hier fort!«

Nach ein paar Minuten saß sie wieder auf ihrem Ruhebett allein. Er hatte zu arbeiten, er ließ sich jetzt einen Vortrag halten über den Bau einer neu zu gründenden herzoglichen Forstakademie in Neurode, es war so wichtig. Auf ihre Frage: »Trinkst du nicht den Fünfuhrtee bei mir, Adalbert?« war nur ein zerstreutes: »Vielleicht, meine Teure, wenn ich Zeit finde. Warte nicht auf mich«, die Antwort gewesen.