Die fürstliche Frau saß an ihrem Schreibtisch, als Klaudine eintrat, und streckte ihr die Hand entgegen. »Es ist, als ob der Sonnenstrahl, der eben da draußen aufleuchtet, mit Ihnen in mein Zimmer geflogen käme, beste Klaudine«, sprach sie liebenswürdig mit ihrer matten klanglosen Stimme. »Sie glauben nicht, wie einsam man sich bisweilen fühlen kann unter Menschen, selbst unter denjenigen, die uns alles sein sollen. Ich habe vorhin in beängstigender Unruhe mein Tagebuch geholt und darin geblättert, da ist mir leichter geworden. Ich habe doch schon viel, sehr viel Glück erlebt, das tröstet mich und macht mich dankbar. Nehmen Sie Platz. Sind das die Lieder, von denen ich sprach?« Sie ergriff die Noten und blätterte darin. »Ah, richtig – Liebestreue! Sie sollen es mir nachher singen, liebstes Fräulein von Gerold, jetzt möchte ich bitten, eine kurze Spazierfahrt mit mir zu machen, ich sehne mich unaussprechlich nach frischer Luft.«
Als die Damen nach einer Stunde zurückkehrten, nahmen sie den Tee, und dann trat Klaudine an den Flügel.
Ihre schöne weiche Altstimme schwebte durch den leicht dämmerigen Raum. Sie sang mit einer traurigen Lust. Der kostbare Flügel stand merkwürdigerweise in dem nämlichen Zimmer, an der nämlichen Stelle, wo einst ihr Instrument gestanden hatte. Das volle süße Glück ihrer Jugend ward lebendig in dieser Umgehung, sie wußte nicht, wie es kam, daß Joachims Lieblingslied von ihren Lippen floß:
»Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit
Klingt ein Lied mir immerdar –
O wie liegt so weit, so weit,
Was mein, was mein einst war –«
Sie sang die traurige einfache Weise mit innigem Gefühl, und dann brach sie inmitten der letzten Strophe mit einem Tone ab, der wie gebrochen klang, und nach ein paar falschen Akkorden, welche die begleitende Hand noch mechanisch griff, ward es still.
Dann scholl es aber weich und leise durch das Gemach: »Adalbert, ich wußte ja, du würdest kommen!«
Klaudine hatte sich erhoben und starrte zu der hohen Gestalt hinüber, die sich eben zu einem Kuß auf die Hand der Gattin herabneigte. Nun verbeugte sie sich und faßte nach der Lehne ihres Sessels, als müßte sie sich stützen.
»Singen Sie weiter, Fräulein von Gerald«, bat der Herzog, »es ist lange her, seit ich die Freude hatte, Sie zu hören.«
Er saß im tiefen Schatten neben dem Lager seiner Gemahlin, den Rücken dem Fenster zugewandt. Klaudine sah sein Gesicht nicht, sie wußte aber, daß der letzte rosige Schein der Abendsonne sie streifte. Das machte sie noch verwirrter. Sie suchte sich gewaltsam zu fassen, aber als sie einsetzte, klang die Stimme verschleiert und kraftlos, es war, als schnüre ein Krampf ihr die Kehle zu. Sie stammelte eine Entschuldigung und erhob sich.
»Wie eigentümlich!« sagte die Herzogin. »Haben Sie schon früher daran gelitten, liebste Klaudine?«
»Niemals, Hoheit!« stotterte sie der Wahrheit gemäß.
»Es gibt derartige nervöse Erscheinungen«, bemerkte der Herzog ruhig, »vielleicht hast du Fräulein von Gerold bereits zu sehr angestrengt?«
»Oh, das wäre möglich. Verzeihen Sie, meine liebe Klaudine, und ruhen Sie sich aus«, rief sichtlich erschreckt die Herzogin. Sie winkte das junge Mädchen zu sich auf das kleine Sesselchen, von dem soeben der Herzog aufgestanden war, um fast unhörbaren Schrittes im Zimmer auf und ab zu gehen.
»Setzen Sie sich so, daß ich Ihr Gesicht erblicken kann«, bat sie. »Wirklich, Sie sehen angegriffen aus, aber jetzt kommt Ihre Farbe wieder. Mein Gott, ich glaube fast, Sie haben sich vor dem plötzlichen Eintritt des Herzogs erschreckt! Adalbert!« lachte sie und bemühte sich, ihren Kopf zu wenden – er stand in diesem Augenblick hinter ihrem Sofa. »Du wirst schuld an diesem Verstummen sein. Oh du böser Mann, was richtest du für Sachen an!« Unwillkürlich hatte Klaudine die Augen zu dem Angeredeten erhoben, um sie im nächsten Augenblick tödlich erschreckt zu senken – da war er ja wieder, dieser heiße, flehende Blick! Über das Haupt der Gattin hinweg war er zu ihr geflogen, indes seine Stimme so ruhig erklang: »Es sollte mir leid tun, gnädiges Fräulein, ich kann mir aber nicht denken, daß mein Erscheinen hier etwas schreckendes, ungewöhnliches haben soll. Ich –«
»O gewiß nicht, Hoheit«, erwiderte Klaudine laut und richtete sich empor, »ich war in dem Augenblick ermüdet, ich hatte ein wenig Kopfschmerz. Es ist mir jetzt viel besser.«
»Um so besser!« lächelte die Herzogin, »und nun wollen wir plaudern. Du bist so stumm, Adalbert. Wie kam es, daß du dein Jagdvergnügen aufgabst? Erzähle! War es wirklich nur, weil du diesen Abend bei mir sein wolltest?« Sie folgte ihm, wenn er wieder an ihr vorüberschritt, mit glückseligen Augen, und ohne eine Antwort abzuwarten, plauderte sie weiter: »Denke dir, Adalbert, der Erbprinz hat ein Gedicht gemacht, seine ersten Verse, der Doktor ließ es mir heute zugehen, er hat es in seinem Lateinheft gefunden. Willst du es lesen? Liebste Klaudine, dort, auf meinem Schreibtisch unter dem Briefbeschwerer – nein, dort unter dem mit der Statuette des Herzogs. Danke sehr. Würden Sie es uns vorlesen? Es ist so kindlich geschrieben und so ernst empfunden.«
Klaudine nahm das Blatt, trat zum Fenster und las beim sinkenden Tageslicht die großen kindhaften Schriftzüge:
»Wenn ich ein Mann erst werde sein,
Hab' ich ein Wörtlein mir erkoren –
Das schreibe ich ins Herz mir ein,
Daß niemals werde es verloren:
Treu will ich sein, das ist mein Wort,
Treu meinem Volk, treu meinem Gott,
Treu meinen Freunden immerfort,
Treu meiner Pflicht, mir selber treu,
Daß treu stets meine Treue sei!«
Klaudine konnte das Gesicht der Herzogin nicht erblicken, aber sie sah, wie sie die Hand nach dem Gatten ausstreckte, und hörte, wie eine leisbebende Stimme flüsterte: »Dein Sohn, Adalbert!« Und laut fragte sie: »Ist es nicht köstlich?«
Er hatte sein Umherwandern eingestellt. »Ja, es ist köstlich, Elise. Möge der liebe Gott ihn so führen, daß es ihm niemals schwer falle, die Treue zu halten.«
»Das kann nicht schwer fallen, Adalbert, niemals!«
»Niemals?« fragte er.
Sie schüttelte den Kopf.
»Niemals! Was sagen Sie, Klaudine?«
»Hoheit, es kann Fälle geben«, begann das schöne Mädchen, »wo es einen schweren Kampf kostet, die Treue zu halten.« –
»Aber dann ist's keine Treue, die durch Liebe bedingt wurde«, unterbrach die fürstliche Frau und ihre Wangen wurden heiß, »dann ist es eine künstliche Treue.«
»Ja«, sagte der Herzog halblaut. Sie klang eigentümlich, diese einfache Bestätigung.
»Dann ist es eben keine Treue, dann ist es Pflichtgefühl«, erklärte die Herzogin eifriger.
»Treue in der Pflicht ist vielleicht der höchste Grad der Treue, Hoheit«, sprach Klaudine sanft.
»Ach, das ist ja ein Streiten um des Kaisers Bart, bestes Kind«, unterbrach abermals die Herzogin. »Eine Treue, die erst mit sich kämpfen muß, hat überhaupt ihre Bedeutung verloren. Wenn zum Beispiel – wenn der Herzog«, sie stockte einen Augenblick und ein schalkhaftes Lächeln glitt über ihr Gesicht, »wenn – nun, wenn er mit seinen Gedanken zuweilen – sagen wir einmal – bei Ihnen, Klaudine, wäre, dann würde doch seine Gattentreue keinen Wert mehr haben, und wäre er tatsächlich der tadelloseste Ehemann. Hörst du, Adalbert? – Dann hättest du, nach meiner Ansicht, überhaupt schon die Treue gebrochen.«
Der Herzog hatte sich umgewendet und schaute zum Fenster hinaus, Klaudine saß mit fast entstellten Zügen da. Die Herzogin bemerkte es nicht, sie lachte jetzt, es war ein so drolliger Gedanke, den sie eben ausgesprochen hatte. Und sie lachte weiter, so kindlich glücklich, wie nur der zu lachen versteht, der ein großes Glück sein eigen nennt und spielend von einem möglichen Verlust spricht, weil er sicher weiß, daß dies niemals sein kann.
»Klaudine!« rief sie dazwischen, »wie sehen Sie aus! Ängstigen Sie sich nicht, es ist kein Hochverrat. Nicht wahr, Adalbert, du weißt, wie ich oft necke? Mein Gott und nun tut mir die Brust weh – o das Lachen. – Klaudine! Klaudine!« Das Wort erstarb in einem heftigen Hustenanfall. »Wasser! Wasser!« stieß sie hervor.
Das erschreckte Mädchen war aufgesprungen und zu dem Tischchen geeilt, das stets eine Wasserflasche trug. Frau von Katzenstein, die in das Zimmer gestürzt war, hielt die nach Atem Ringende in den Armen. Der Herzog stand mit finsterer Miene neben dem Ruhebett, die Leidende hatte seine Hand wie im Krampf erfaßt.
Sie war wie geschüttelt von dem Husten und vermochte nicht zu trinken. Mit leisem Schritte kam der herbeigerufene Arzt durch das Zimmer. Klaudine trat zur Seite und gab dem alten liebenswürdigen Herrn Raum.
»Lieber Doktor Westermann!« stieß die Kranke hervor, »es wird schon besser, es geht vorüber. Oh mein Gott, ich atme wieder!«
Die allerletzte graue Dämmerung füllte das Zimmer. Klaudine hatte sich in die Fensternische zurückgezogen, sie stand wie auf glühenden Kohlen und sah, fast abwesend, auf die Gruppe inmitten des Gemaches.
Jetzt trat der Herzog zurück, und die Leidende fragte mit matter Stimme: »Habe ich dich sehr erschreckt, Adalbert? Vergib mir!«
»Hoheit müssen sich sogleich niederlegen«, erklärte der Arzt.
Der Herzog, der sich bereits der Tür genähert hatte, kam plötzlich zurück. Frau von Katzenstein stützte die Kranke, die sich gehorsam erheben wollte. Sie winkte freundlich zu Klaudine hinüber: »Auf Wiedersehen! Ich werde Sie bald rufen lassen, Liebste! Gute Nacht, mein Freund«, wendete sie sich dann zum Herzog, »morgen bin ich wieder ganz wohl.«
Der Arzt trat, nachdem die Kranke hinter dem Vorhang verschwunden war, zum Herzog.
»Hoheit, es ist nichts ängstliches, nur muß die hohe Kranke sehr geschont werden – keine aufregenden Gespräche, keine geistlichen Debatten, wie Ihre Hoheit es lieben. Das Temperament Ihrer Hoheit spielt mir ohnehin schon böse Streiche, ebenmäßig langweilig soll die Kranke leben.«
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