Als Klaudine abends die Treppe hinabstieg, um heimzufahren, trat ihr Herr von Palmer entgegen und begleitete sie vollends hinunter. Er gab hinter Klaudines Rücken der Kammerfrau einen Wink, die sogleich verschwand.

»Mein gnädiges Fräulein«, begann er mit einer geflissentlich zur Schau getragenen Ehrfurcht – »Seine Hoheit hat mich mit dem schmeichelhaften Auftrage betraut, ein Schreiben in Ihre Hände zu legen, was ich hiermit tun möchte.«

Er hielt ihr ein Briefchen hin, mit dem herzoglichen Wappen gesiegelt. »Es betrifft Ihre Hoheit, die Frau Herzogin, und Antwort sei nicht nötig, sagten Hoheit. Darf ich bitten?«

Sie mußte es nehmen, obgleich sie die Hand des Menschen am liebsten zurückgestoßen hätte. Wie konnte der Herzog so unvorsichtig sein, ihr durch diese Kreatur einen Brief, einen verschlossenen Brief zu senden! Sie riß den Umschlag in seiner Gegenwart auf und las. Es waren nur wenige Zeilen:

»Klaudine!

Sie sind ein ungewöhnlicher Charakter und werden dementsprechend auch das Ungewöhnliche richtig beurteilen. Nach Ihrem letzten Wort – habe ich nur noch eine Bitte: bleiben Sie der Herzogin auch trotzdem eine Freundin, geben Sie meinem Bekenntnis nicht die Folge, Altenstein zu meiden! Sie haben es nicht nötig, Klaudine! Bei meinem Wort, Sie dürfen mir vertrauen!

Adalbert.«

Sie ging rasch, Brief und Umschlag in der herabhängenden Rechten tragend, weiter. Herr von Palmer folgte ihr und half ihr dienstbeflissen in den Wagen, er ließ es sich sogar nicht nehmen, behutsam die Schleppe ihres Kleides zusammenzulegen, und trat erst mit tiefer Verbeugung zurück, als der Diener die Wagentür schloß.

»Auf Wiedersehen!« sagte er, als jetzt der Diener zum Kutscher auf den Bock sprang und die Pferde anzogen. Dann nahm er mit lächelnder Miene aus seinem rechten Ärmel ein Papier. »Man muß derartiges fester halten, schöne Klaudine«, murmelte er und überflog die Zeilen beim Scheine der Türlaterne.

Er nickte befriedigt und ging, eine Operettenmelodie vor sich hinsingend, in das Schloß zurück, um sein Zimmer im Erdgeschoß aufzusuchen. Dort zündete er sich eine Havanna an, warf sich auf die Ruhebank und überlas das Schreiben noch einmal.

»Seine Hoheit scheinen einen etwas stürmischen Anlauf genommen zu haben«, murmelte er, »und sie hat ihn in tugendhafter Entrüstung abgewiesen, gedroht, nicht wieder zu kommen. Und nun bittet er, der Herzogin wegen, diesen grausamen Vorsatz aufzugeben, und verspricht Besserung. Zeit gewonnen, alles gewonnen! denkt er. Es entwickelt sich sehr logisch, es ist gar nichts dagegen zu sagen – hm! Sie ist klug, sie wird sich nie begnügen, Seiner Hoheit die Stirn mit Rosen zu bekränzen, sie wird regieren helfen wollen. Diese Damen glauben ja alle, ihre schiefe Stellung durch sogenannte gute Taten zu sühnen, sie wollen den Unglücklichen, den sie in ihrer Macht haben, veredeln, wollen dem Volk zeigen, daß sein geliebter Herrscher keiner Unwürdigen in die Hände fiel, es soll anbetend vor ihnen auf den Knieen liegen und sie >des Landes guten Engel< nennen. Und auch die Klügsten sehen nur das, was ihnen zunächst vor Augen steht, und dieses Nächste könnte möglicherweise im vorliegenden Falle – ich sein!«

Er blies den Rauch seiner Zigarre zur Decke empor und betrachtete die Stuckgewinde dort oben.

»Sie kann mich nicht leiden«, sprach er weiter, »es geht ihr mit mir, wie es weiland dem unschuldigen Gretchen mit Mephisto erging, und es ist klar, daß sie eines Tages zu ihrem fürstlichen Faust sagen wird: ›Der Mensch, den du da bei dir hast, ist mir in tiefer innerer Seele verhaßt‹ – und so weiter. Das möchten wir am Ende doch verhindern! Ich will es nicht darauf ankommen lassen, ob der Herzog ihr glaubt oder nicht. Einstweilen freilich aufpassen! Die Berg wird helfen, sie hat eine hervorragende Begabung für Intrigen, mir selbst graut zuweilen vor diesem Weibe.«

»Das Abendessen ist bereit«, meldete der Diener. Herr von Palmer erhob sich ohne allzu große Eile, schloß sorgsam das Briefchen in einen riesigen alten Schreibtisch, dessen Täfelung das Geroldsche Wappen zeigte, ordnete vor einem großen Stehspiegel sein spärliches Haar, wusch sich mit einer wahren Flut von Kölnischem Wasser die mageren feinen Hände, gähnte herzhaft, nahm Hut und Handschuhe von dem ehrerbietig harrenden Diener, und nachdem er noch einen Blick auf die Uhr geworfen, welche die zehnte Stunde anzeigte, ging er nach dem kleinen Speisezimmer, wo die Herren, die der Herzog für seinen hiesigen Aufenthalt gewählt, bereits versammelt waren, der alte Kammerherr von Schlotbach, der Adjutant von Rinkleben, der den Rang eines Rittmeisters besaß, und der Jagdjunker von Meerfeld, ein Kerl wie ein junger Hund – wie Herr von Palmer ihn bezeichnete. Der letztere schien sich im allgemeinen der Freundschaft dieser drei Herren auch nicht besonders zu erfreuen. »Verzeihung«, sagte er zu den in einer Gruppe Versammelten, »ich ließ warten, war im Allerhöchsten Dienste beschäftigt, und ein reizender Dienst, meine Verehrtesten! Ich hatte auf Befehl Seiner Hoheit die schöne Klaudine von Gerold in den Wagen zu heben.«

»Donnerwetter, sie war schon wieder hier?« rief der Jagdjunker mit ungeheucheltem Erstaunen.

»Soeben verließ sie die herzoglichen Gemächer.«

»Sie wollen sagen: ›die Gemächer Ihrer Hoheit‹, mein Herr von Palmer«, berichtigte nicht ohne Schärfe der Rittmeister, und eine leise Röte stieg in sein Gesicht.

»Ich hatte das Glück, den schönsten Gast dieses Hauses auf dem oberen Korridor zu treffen«, erwiderte Palmer vielsagend lächelnd.

»Ah so! ›Man wußte nicht, woher sie kam, und schnell war ihre Spur verloren, sobald sie wieder Abschied nahm‹«, deklamierte der Jagdjunker lachend.

Der Rittmeister warf ihm einen unwilligen Blick zu. »Fräulein von Gerold war bei der Herzogin, hat in ihrem Salon gesungen und ist dann im Schlafzimmer ihrer Hoheit gewesen«, sagte er laut und bestimmt.

»Vorzüglich unterrichtet!« flüsterte Palmer und verbeugte sich tief. Der Herzog war soeben eingetreten. –

»Ich verstehe Klaudine von Gerold nicht«, sagte der Rittmeister ernst, als er nach dem Abendessen neben dem Jagdjunker den Gang entlang schritt, an dessen Ende sich ihre Zimmer befanden. »Es ist Mut am unrechten Platz, sie sollte die Höhle des Löwen meiden. Unglaublich, mit welcher Tollkühnheit ein Weib im Gefühl seiner Sicherheit und Tugend seinen guten Ruf aufs Spiel setzt.«

»Vielleicht macht es ihr Spaß, auf dem gefährlichen Seil zu tanzen«, erwiderte der Jagdjunker leichthin, »strauchelt sie, dann sind ja die Arme längst geöffnet, die sie auffangen, strauchelt sie nicht – um so besser. Ich denke aber, es kann ganz amüsant werden, es ist ohnehin verteufelt langweilig in diesem deutschen Aranjuez.«

»Von einer anderen würde ich vielleicht auch so denken, lieber Meerfeld, aber in anbetracht dieser Dame möchte ich doch bitten, Ihre Kritik etwas mäßigen zu wollen.«

»Na, nur nicht tragisch, Rittmeisterchen«, lachte der andere. »Lassen Sie sich den Schlaf nicht vergehen darüber, vorläufig sehen Seine Hoheit noch nicht aus wie ein Beglückter, Sie waren mehr denn schlechter Laune. Die Langeweile! Die Langeweile! Dieses Altenstein ist aber auch eine tolle Idee. Wenn man hier dumme Streiche macht, so beantrage ich mildernde Umstände.«

12.

Klaudine langte vor dem Eulenhause an, sie hatte noch immer ein zerknittertes Papier in der Hand. Der alte Heinemann, der schon lange neben seinem Laternchen vor der Gartentür auf sie gewartet hatte, erhielt kaum mehr als einen flüchtigen Gruß von seiner jungen Herrin. Sie flog förmlich vor ihm her in das Haus, und als er nachkam und die Tür verriegelte, hörte er nur noch das Rascheln ihres seidenen Kleides auf dem oberen Flur. Dann ging eine Tür und es ward still.

Auch in dem kleinen Mädchenstübchen blieb es still und dunkel, als sei niemand drinnen, und doch saß am Fenster eine Gestalt und starrte regungslos in das Waldesdunkel, das schwärzer noch als die lichtlose Nacht das einsame Haus umgab. »Was ist geschehen?« fragte Klaudine sich. »Der Herzog hat mir seine Liebe gestanden und ich wies ihn zurück, auf immer zurück. Aber um welchen Preis?« Um das Bekenntnis ihres tiefsten Geheimnisses, das sie sich selbst noch nicht zu gestehen wagte, ihr Stolz empörte sich gegen diese Tatsache, jetzt wußte es derjenige, der ihr heute mit einem beleidigenden Geständnis genaht! Ob der Herzog ahnte, wen sie liebte? Es wäre unerträglich!

Sie ballte unwillkürlich das Papier in ihrer Hand zusammen, und Tränen heißer Scham traten ihr in die Augen. Rasch erhob sie sich, zündete Licht an, faltete das Papier wieder auseinander und bemühte sich, es zu glätten. Dann stützte sie sich schwer auf den Tisch und starrte auf den zerknitterten weißen Umschlag, es war eben nur der Umschlag, – das Briefblatt fehlte! Unruhig begann sie in der nächsten Minute zu suchen auf dem Tisch, auf dem Boden an dem Fleck, wo sie gesessen, sie schüttelte den Mantel aus und die Falten ihres Kleides, sie nahm endlich den Wachsstock und leuchtete das Treppchen hinunter – auch dort nichts! Wie ein Dieb schlich sie zur Haustür, schob den Riegel zurück und leuchtete hinaus auf die Schwelle und den Sandsteintritt – auch hier nichts zu sehen. In ihrer Besorgnis ging sie, das flackernde Flämmchen mit der hohlen Hand schützend, den Gartenweg entlang bis zur Pforte, möglicherweise war ihr das Papier beim Aussteigen entfallen. Die Gittertür, die auf die Landstraße führte, knarrte, als sie von ihr geöffnet wurde, der Lichtschein flammte geisterhaft über den Weg – nichts helles glänzte ihr entgegen. Mit angstvollen Augen spähte sie unter die Weißdornsträucher zur Seite der Pforte – nichts! Und plötzlich flackerte das Licht auf und erlosch dann und sie befand sich im Dunkeln, und so tief erschien den an das Licht gewöhnten Augen die Finsternis, daß sie einen Augenblick ratlos stand und nicht zu unterscheiden vermochte, wohin sie sich wenden müsse, um wieder in den Garten zu gelangen.