»Wir fahren nach Neuhaus! Wo ist die Komtesse?« schallte es ihr entgegen.

»Um Gottes willen, Mama, was ist geschehen?« Prinzessin Helene kannte so gut die Stimmung, die sich auf dem Gesichte der alten Durchlaucht abspiegelte.

»Komm!« war die Antwort.

»Nein, Mama, liebste Mama, laß mich hier, ich halte es vor Angst in Neuhaus nicht aus!« flehte die Prinzessin.

»Wer sagt dir, daß du es aushalten sollst? Wir fahren heute abend mit dem Schnellzug nach Berlin. Komm!«

»Nein, ich kann nicht!« klang es zurück von den blassen Lippen. »Zwinge mich nicht, ich laufe dir unterwegs davon – ich kann nicht fort von hier!«

Die alte Dame übermannte der Zorn, sie ergriff mit ihren knöchernen Händen den zierlichen Arm. »Vorwärts! Wir haben nichts mehr hier zu tun!« zischte sie.

Aber die Prinzessin-Tochter riß sich los. »Ich tue, was meine Pflicht ist!« rief sie außer sich und floh aus dem Zimmer.

Prinzessin Thekla fuhr mit Komtesse Moorsleben allein nach Neuhaus. Vor ihnen rollte der Wagen mit Beate und den Kindern.

Die Komtesse stand dann mit blassem Gesicht vor Frau von Berg, die eiligst herbeigekommen. Das junge Mädchen war außer sich über die Behandlung, die Ihre Durchlaucht während der Fahrt ihr hatte angedeihen lassen.

»Oh, ich reiste am liebsten auf der Stelle zu Mama!« rief sie, »was kann ich dafür, daß Ihre Hoheit einen Blutsturz bekam?«

Frau von Berg lächelte noch immer, aber sie war plötzlich blaß geworden. »Einen Blutsturz?« fragte sie.

»Ja, und zwar recht schlimm. Sie haben nach H. telegraphiert.«

»Und Prinzeß Helene?«

»Sie wollte nicht mit, sie tut, als möchte sie sich am liebsten auf die Schwelle des Krankenzimmers legen.«

»Und wo ist der Baron?«

»Bei Ihrer Hoheit der Herzoginmutter. Wenigstens war er da, als wir wegfuhren. Die Böhlen sagte, er habe bei der alten Hoheit um eine Unterredung bitten lassen.«

»Nun, und Fräulein von Gerold?«

Die hübsche Komtesse zuckte die Achseln. »In aller Leute Mund«, erwiderte sie. »Sie tut mir leid. Man sagt, die Herzogin habe die Untreue ihres Gatten entdeckt. Seine Hoheit sieht aus, als wolle er die Welt in Brand stecken.«

»Mein Gott, einmal mußte doch dieser Skandal ans Licht kommen«, sagte Frau von Berg achselzuckend. »Aber wo in aller Welt ist sie denn nun? Sitzt sie im Turm des Eulenhauses und lugt erwartungsvoll nach Altenstein hinüber, oder ist sie in den Schloßteich gelaufen, die stolze Klaudine?«

Komtesse Moorsleben sah in das Antlitz, das so wenig seine Genugtuung zu verbergen verstand. Die wilde Freude flackerte nur so aus den schwarzen Augen.

»Gnädige Frau«, sagte die niedliche Komtesse boshaft, »ich habe mich schon den ganzen Morgen besonnen – von wem ist das Wort: ›Wer im Glashause sitzt, soll nicht mit Steinen werfen‹?«

»Ich fragte Sie, Komtesse, wo Fräulein von Gerold nach dem klaren Beweis von Ungnade geblieben ist?« betonte die Dame zornesrot.

»Ich verstehe Sie nicht, liebe Frau von Berg«, antwortete die Komtesse so sanft, als ihr möglich war. »Sie wissen mehr als ich – Ungnade? Fräulein von Gerold sitzt am Krankenbett Ihrer Hoheit.«

Frau von Berg schnappte nach Luft und rauschte in das Zimmer Ihrer Durchlaucht, von wo soeben ein wahres Sturmgeläute ertönte.

24.

Die Herzogin schlief, im ganzen großen Gebäude herrschte Todesstille.

In dem Zimmer des Rittmeisters von Rinkleben saß Baron Gerold, er hatte den liebenswürdigen Offizier gebeten, sich hier aufhalten zu dürfen, er wolle die nächste Nachricht von dem Befinden Ihrer Hoheit abwarten. Er hatte ein Buch genommen, aber ihm fehlte die Ruhe zum Lesen. Eine finstere Sorge lag über seinem Gesichte und eine qualvolle Unruhe ließ ihn unaufhörlich hin und her wandern.

Herr von Palmer hatte seine Stube verriegelt, er befand sich in der denkbar schlechtesten Laune. Ein netter Tag, der heutige, wahrhaftig! Als er diesen Morgen zum Vortrag in das Arbeitszimmer Seiner Hoheit trat, war ihm der Herzog mit einer ziemlich verwunderten Miene und einem offenen Briefe entgegengekommen. Es war ein vertrauliches Schreiben des Prinzen Leopold, seines Vetters, und enthielt die Frage, wie es zugehe, daß das Hofmarschallamt seit nahezu drei Jahren der Firma C. Schmidt in R. am Rhein keinerlei Zahlung mehr geleistet habe. Der Chef der Firma habe nun des Prinzen Vermittlung erbeten, da auf direkte Anfragen zwar stets neue Bestellungen, aber immer nur ausweichende Antworten betreffs der Rückstände eingetroffen seien. Ja, in dem letzten Schreiben sei mitgeteilt, daß bei fernerem Drängen die Lieferungen dem Hause entzogen werden würden. Herr von Palmer hatte gelächelt und gesagt, es liege ein grobes Mißverständnis vor, Seine Hoheit aber hatte sehr energisch den Wunsch ausgesprochen, diese Angelegenheit so bald wie möglich und bestens geordnet zu sehen.

Es war sehr unangenehm, sehr! Als ob solch Krämerpack nicht borgen müßte bis in alle Ewigkeit, wenigstens so lange bis Herr von Palmer nach einigen Jahren in der Lage sein würde, mit aller Ruhe irgendwohin abzureisen! Es war doch ein Trost, diese Berg zur Seite zu haben. Wie glänzend hatte sie dieses »Unmöglichmachen« in Szene gesetzt, am Geburtstage des Prinzen! Die alte Herzogin hatte Klaudine fallen lassen, das war ja unbezahlbar! Der Mutter gegenüber würde selbst Seine Hoheit nicht den Mut finden, dieses Schäferspiel weiter zu treiben. Wundervoll! Ganz wundervoll!

Durch das hohe, breite Fenster im Schlafzimmer der Herzogin fielen die letzten Strahlen der scheidenden Sonne.

»Klaudine!« flüsterte eine matte Stimme.

Das Mädchen, das in tiefen, schweren Gedanken gesessen, erhob sich und kniete neben dem Bette der Kranken. »Wie geht es dir, Elisabeth?« fragte sie.

»Oh – es geht – es geht besser. Ich fühle, daß das Ende kommt –«

»Elisabeth, sprich nicht so!«

»Ist jemand hier, der uns hören könnte?« fragte die Herzogin.

»Nein, Elisabeth, Seine Hoheit ist hinuntergegangen zu den kleinen Prinzen, die Kammerfrau ist mit der Krankenschwester im Nebenzimmer und Frau von Katzenstein bei der Herzoginmutter.«

Die Kranke lag ganz still und folgte mit den Augen dem glühendroten Sonnenfleck auf dem Bilde an der Wand, der unmerklich höher und höher glitt, zuletzt noch auf dem Blattwerk des Goldrahmens funkelte und dann erlosch.

»Warum hattest du kein Vertrauen zu mir?« fragte sie plötzlich mit trauriger Stimme, »warum sagst du mir nicht offen alles, alles?«

»Elisabeth, ich hatte dir nichts zu verbergen.«

»Lüge nicht, Klaudine!« rief die Herzogin feierlich, »eine Sterbende soll man nicht belügen!«

Klaudine hob stolz den Kopf. »Ich habe dich nie belogen, Elisabeth.«

Ein bitteres Lächeln flog über das bleiche, abgezehrte Gesicht der Kranken.

»Du hast mich belogen mit jedem Blick!« sagte sie entsetzlich klar und kalt, »denn du liebst meinen Gatten.«

Ein wahrer Aufschrei unterbrach sie, und schwer lag Klaudines Kopf auf der roten Seidendecke des Krankenbettes. Was sie gefürchtet, was sie bis zur Gewißheit gefühlt hatte, das sagte ihr jetzt der Mund der Frau, die sie so treu, so innig liebte.

»Ich mache dir ja keinen Vorwurf, Klaudine, ich will nur, daß du mir versprichst, nach meinem Tode –«

»Barmherziger Gott!« stöhnte das Mädchen und richtete sich wild empor. »Wer hat dieses entsetzliche Mißtrauen in dir geweckt?«

»Mißtrauen? Wenn du noch fragtest: wer öffnete dir die Augen, um die entsetzliche Wahrheit zu erkennen? Und er – liebt dich – er liebt dich!« flüsterte die Herzogin weiter. »Ach Gott, es ist ja so natürlich!«

»Nein! Nein!« rief Klaudine außer sich und rang die Hände.

»Ach, schweige doch«, bat die Kranke müde, »oder laß uns ruhig sprechen. Ich habe noch so viel zu sagen.«

Klaudine war aufgestanden, ihr schwindelte. Was sollte sie tun, um zu beweisen, daß sie unschuldig sei?

Auf den Wangen der Kranken schimmerte es wieder so rot, sie atmete so schwer.

»Elisabeth, nur dieses eine Mal noch glaube mir, vertraue mir«, flehte das Mädchen.

Die Kranke richtete sich plötzlich auf.

»Kannst du schwören«, fragte sie ruhig, »kannst du schwören, daß nie zwischen dir und dem Herzog von Liebe die Rede war? Schwöre es, schwöre es bei dem Andenken an deine Mutter, und wenn du das kannst im Angesicht meines letzten Lagers, so will ich dir glauben, daß meine eigenen Augen falsch gesehen haben!«

Klaudine stand wie leblos. Ihre Lippen bewegten sich, aber es kam kein Ton heraus, und plötzlich neigte sie den Kopf wie vernichtet.

Die Herzogin sank in die Kissen zurück. »Den Mut hast du doch nicht!« murmelte sie.

»Elisabeth«, rief Klaudine jetzt, »glaube mir! Glaube mir! Mein Gott, was soll ich nur tun, daß du mir noch einmal glaubst! Ich wiederhole es dir, du bist im Irrtum –«

»Sei still«, sagte die Herzogin mit verächtlichem Lächeln.

Seine Hoheit war eingetreten. »Wie geht es dir, Liesel?« fragte er herzlich und beugte sich über sie, indem er ihr das feuchte Haar aus der Stirn zu streichen versuchte.

»Fasse mich nicht an!« stieß sie hervor, und ihre Augen wurden angstvoll groß. »Es ist ja bald vorbei«, flüsterte sie dann.

Klaudine lehnte fassungslos an der Tür. Der Herzog trat zu ihr und fragte leise und besorgt: »Phantasiert Ihre Hoheit?«

Klaudine, der Verzweiflung die Brust zu zersprengen drohte, preßte den schluchzenden Schrei, der sich ihr entringen wollte, mit dem Tuch zurück und wankte in das Nebenzimmer.

Er folgte ihr ängstlich. »Was ist geschehen?«

Die Augen der Kranken richteten sich auf die Tür, durch welche jene beiden verschwunden waren. Der ganze furchtbare, gewaltsam zurückgedrängte Schmerz durchrüttelte sie und verwirrte ihre armen Gedanken. Sie lag mit geballten Fäusten und glühenden Augen. Wie, nicht einmal der Sterbenden wollte sie bekennen? Und sie hatte es so gut gemeint, sie wollte in ihrem letzten Willen bestimmen, daß sie sich angehören sollten, die beiden, für das Leben. Das sollte die Rache sein für ihr gebrochenes Glück. Und sie, sie – welch ein Abgrund von Schlechtigkeit mußte dieses Geschöpf in sich bergen, das auch jetzt noch den Himmel anrief als Zeugen seiner Unschuld!