»Einfältige Person«, hatte Frau von Berg gescholten, »wer will denn stehlen? Ihre Durchlaucht ist die Großmutter des Kindes.«
»Mein Herr mag's mir selbst sagen!« war die Gegenrede gewesen.
»Ihr Herr ist ja nicht zu Hause, nehmen Sie Vernunft an!«
Aber auch das half nichts, Dörte hatte den Ellenbogen in die Seite gestemmt und war auf ihrem Posten geblieben. Plötzlich war es ihr gelungen, den altmodischen Glockenzug zu erwischen – manch ungeduldiges Läuten mochte von dort schon erklungen sein, aber so wie heute wohl noch nie.
Die Kinderstubenklingel war im ganzen Hause bekannt. In diesem Zimmer hatten der alte Herr und die Frau krank gelegen und waren hier gestorben – kein Wunder, daß alle Welt dachte, es sei ein Unglück geschehen, und daß Lothar, der eben von seinem morgendlichen Ritt in die Felder zurückgekommen war, allen voran den Flur entlang gejagt war, Beate hinter ihm drein, und daß von allen Seiten die Dienerschaft hinzustürzte.
»Was geht hier vor?« war seine erste Frage gewesen. Er schien seinen Augen nicht zu trauen, als er Ihre Durchlaucht erblickte, die sich beim Frühstück wegen ihrer Kopfschmerzen hatte entschuldigen lassen und die nun dort stand mit hochrotem Gesicht und mit gebieterischer Stimme sprach: »Ich wünsche meine Enkelin mit mir zu nehmen, und diese Person –«
»Ah! Durchlaucht glaubten, ich sei so versunken in mein Bräutigamsglück, daß ich die Stunde der Abreise vergessen würde? Oder vielmehr, Durchlaucht wollten mein Nachhausekommen nicht abwarten und mit einem früheren Zug abreisen? Deshalb die Wagen vor der Auffahrt? Und Durchlaucht wünschen die Enkelin mitzunehmen« – seine Stimme hatte geklungen wie fernes Wettergrollen – »ohne meine Erlaubnis vorher einzuholen? Mit welchem Rechte, wenn ich fragen darf?«
»Sie ist das Kind meiner Tochter!«
»Und das meine! Das Recht des Vaters dürfte doch wohl etwas über dem Recht der Großmutter stehen, Durchlaucht.«
»Nur auf wenige Monate, Gerald«, hatte die Prinzessin eingelenkt, die jetzt wohl zu der Einsicht kam, daß sie in ihrem Groll eine Torheit begangen hatte.
»Nicht auf eine Stunde!« rief er, und eine auffallende Blässe hatte sich auf sein Gesicht gelegt. »Dies Kind will ich bewahren vor dem Gifthauch, der da draußen weht und die reinsten Blüten aussucht, um sie zu verderben. Meine Tochter soll erzogen werden, wie es einst Sitte war im Hause meiner Vorfahren, einfach, natürlich und vornehm denkend. Und hier wird es geschehen, hier in Neuhaus, Durchlaucht, unter meiner und meiner künftigen Gattin eigener Aufsicht!« Und er hatte rasch die Vorhänge des Bettchens zurückgeschlagen, in dem die Kleine mit erschrockenen Augen lag. »Wenn Durchlaucht Abschied nehmen wollen?« – hatte er kühl hinzugesetzt.
Die Prinzessin war einen Augenblick zu der Wiege getreten, die Stirn des Kindes mit ihren Lippen berührend, und dann ohne ein weiteres Wort durch den Flur nach der Halle hinausgerauscht, wo Prinzeß Helene, mit der Hofdame und dem Kammerlierrn, der Mutter harrte. Die alte Durchlaucht war eingestiegen, mit dem verbindlichsten Lächeln auf den Lippen, Beate, die sich tief verbeugte, hatte aber doch kaum ein herablassendes Kopfneigen für ihre wochenlange Gastlichkeit bekommen. Lothar saß den Durchlauchten gegenüber, wie damals, als er sie holte. Als die Pferde anzogen, war aus zwei dunklen Mädchenaugen ein langer Blick über das alte Haus geglitten, so voll bitterer Enttäuschung, so voll schmerzlicher Reue, daß Beate trotz aller Erleichterung vor Mitleid das Herz geschwollen war. Arme, kleine, trotzige Prinzessin!
Beate ertappte sich darüber, daß sie da noch immer vor dem Spiegel stand und an den Hutbändern knüpfte. Sie seufzte tief auf. Gottlob, es war Friede im Hause! Dort oben wehte die kräftige Waldluft den letzten Hauch von dem durchdringenden Parfümgeruch aus dem Zimmer der Frau von Berg, und die Hausmädchen hatten längst die Scherben eines kostbaren Kristallglases fortgeräumt, das die alte Prinzessin in ihrem Jähzorn gegen den Kachelofen geschleudert hatte. Auf dem Rasenplatz wurden die Betten gelüftet. Morgen würde alles sein wie früher – gottlob!
»Verzeiht mir«, sprach sie mit heller Summe, als sie ein paar Minuten später in das Wohnzimmer trat, wo Klaudine durch das Fenster blickte, während Lothar gedankenvoll vor dem Bilde seines Vaters stand, um die ganze Zimmerlänge entfernt von seiner Braut. »Verzeiht, ich komme etwas spät. Man hat euch doch den Kaffee gebracht? Nun, ich wäre bereit zur Fahrt!«
Lothar ging erst jetzt gemessen auf seine Braut zu und bot ihr den Arm wie auf einem Hofball: »Eine Fahrt in der freien Luft wird Ihnen gut tun, Klaudine.«
Wie? Sie nannten sich nicht einmal »du!« Beate fing an, sich wirklich zu ärgern über diese förmlichen Menschen.
»Bitte, Lothar«, erwiderte Klaudine, »geben Sie Befehl, nach der Fahrt am Eulenhause zu halten. Ich sehne mich nach Ruhe – ich fühle mich noch matt.«
»Ja, natürlich! Wir müssen doch noch Joachim einen Brautbesuch machen«, war die Antwort.
Es war eine recht stille Fahrt. Als der Wagen den Abhang hinunterrollte dem Tale zu, aus dem die roten Dächer dss kleinen Badeortes schimmerten, lehnte sich Klaudine seufzend zurück. Auch das noch! Sie hatte es geahnt, er wollte sie zeigen – als seine Braut.
Von dem Kurhause schallten die Klänge eines Walzers herüber, als sie in die Allee einbogen. Auf dem freien Platze, in dessen Mitte der Musiktempel sich erhob, standen zahlreiche Tischchen, mit rot und weißen Decken belegt. Die ganze vornehme Kurgesellschaft saß dort plaudernd an einer riesigen Tafel, die der Oberkellner mit Argusaugen hütete, damit ja kein Unwürdiger sich an ihr niederlasse.
Heute war keiner der Sitze leer, und die Unterhaltung, so lebhaft wie lange nicht, betraf die gestrigen Ereignisse in Altenstein. Die Mär von der Ungnade der Herzoginmutter gegen ihren früheren Liebling war auf aller Lippen, natürlich entstellt, nicht zum Wiedererkennen vergrößert und verschlimmert. Nach der einen Lesart sollte die alte Herzogin Klaudine geboten haben, sofort das Schloß zu verlassen, die andere wußte von zurückgezogener Pension, ein dritter behauptete, die schöne Gerold habe es zu erzwingen gewußt, daß sie noch bei Tafel erscheinen durfte, und betont, daß der Herzog der Regierende und der allein Befehlende sei.
Oh, unglaublich! Und dazu der Blutsturz der Herzogin! Die arme Frau, die arme Frau! Vor Kummer und Aufregung natürlich!
Dem Herzog konnte man ja schließlich das Abenteuer nicht einmal übelnehmen, wenn Klaudine so leichtsinnig war. Man zuckte die Achseln und lächelte über die arme, betrogene Frau, die geglaubt hatte, eine Freundin an ihr zu besitzen.
»Oh, schauderhaft!« klagte eine ältere Baronin. »Wie es wohl herausgekommen ist?«
»Wie nur Baron Gerold diese Sache auffaßt? Er sah aus wie eine Leiche, als die alte Herzogin die Gerold so abfallen ließ.«
Ein Gewirr von Stimmen erhob sich auf diese Worte. Aber auf einmal ward es still, irgendwer hatte gesagt: »Das ist ja der Neuhäuser Wagen!«
Man gab sich den Anschein, als ob man über irgend etwas anderes angelegentlich spräche. Die Damen wandten sich zu einander und bewegten die Fächer, aber aller Augen waren dorthin gerichtet, wo das Gefährt sich näherte. Die schönen Rappen vor dem Wagen tänzelten unter den Klängen des Walzers daher, Kutscher und Diener auf dem Bock leuchteten in tadellosen blaugelben Livreen, und da im Rücksitz?
An der langen Tafel flogen plötzlich sämtliche Hüte von den Köpfen, die Herren waren aufgesprungen, die Damen grüßten und nickten liebenswürdig.
Was, um Gottes willen, Klaudine von Gerold – den Arm in der Binde, neben Fräulein Beate? Und ihr gegenüber der Baron? Langsam, sehr langsam fuhr jetzt der Wagen vorbei und hielt vor der Tür des Kurhauses.
Zwei Herren der Gesellschaft stürzten herbei, ein junger Husarenoffizier und der schwermütige Gesandtschaftsattaché. Der Leutnant wollte sich nach dem Befinden der Herzogin erkundigen, seiner hohen Tischnachbarin von dem Neuhäuser Feste, und da er wohl annehmen dürfe, Fräulein von Gerold sei am besten unterrichtet, so – und so weiter. Der Gesandtschaftsattache hatte andere Absichten, er kam auf den geflüsterten Wunsch Ihrer Exzellenz: »Man müsse doch wissen, was das zu bedeuten habe –«
»Die Herzogin befindet sich besser«, erwiderte Klaudine freundlich.
»Aber, gnädiges Fräulein scheinen verletzt?« fragte der Attache und drehte den Schnurrbart.
»Eine kleine, unbedeutende Verletzung, Herr von Sanders«, nahm Lothar das Wort. »Ich denke, meine Braut wird den Arm bald wieder – O Verzeihung! Ich vergaß zu sagen, daß Sie hier ein nagelneues Brautpaar vor sich sehen. Wir verlobten uns gestern abend. Eine Überraschung, nicht wahr, meine Herren?«
Er drückte sich mit den Herren die Hände, und Glückwünsche und Dankesworte flogen hin und her. Klaudine trank indes und gab das Glas zurück.
»Weiterfahren!« befahl jetzt Lothar, zog den Hut vom Kopf und, verbeugte sich gemessen gegen die Herrschaften um den Tisch. In den nächsten Minuten hatte der jetzt rasch dahinrollende Wagen den einsamen Waldweg erreicht.
Dort an dem Tische vor dem Kurhause schwiegen plötzlich sämtliche Zungen. Erst ganz allmählich faßte man sich. Oh, wie das jetzt anders klang!
»Nun«, erklärte die alte Exzellenz würdevoll, »ich habe es ja gleich gesagt, an all dem Gerede war nichts!«
»Ach Gott, es wird so viel gesprochen«, seufzte die gefühlvolle Baronin. »Wer hat es denn eigentlich aufgebracht?«
»Antonie von Bohlen hat es mir heute geschrieben«, sagte eine der hübschen Komtessen Pausewitz, »doch ich sollte nicht darüber sprechen.«
»Aber so erzähle doch!« rief die Gräfinmutter, ärgerlich über diese Diskretion.
»Klaudine Gerold hat sich die Pulsader aufschneiden lassen, weil die Herzogin dem Verbluten nahe war, und da ist ihr Blut in die Adern der Herzogin geleitet worden«, berichtete die Komtesse. »Antonie schreibt, ohne das wäre die Herzogin gestorben. O Gott, o Gott, es ist schauderhaft, ich hätte es nicht gekonnt.«
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