Er antwortete nicht und stürmte hinaus, die Dame rauschte hinterdrein.

Klaudine erhob sich unwillkürlich und trat ans Fenster. Sie sah Palmer eilig in ein Abteil erster Klasse verschwinden. Die Dame stand davor, fest in ihren Pelz gewickelt. Dann setzte sich der Zug in Bewegung und die Zurückbleibende kam wieder ins Wartezimmer. Sie sah einen Augenblick die verschleierte Klaudine scharf an, dann schlug sie den Schleier zurück und bestellte sich Tee und Zeitungen.

Richtig, dieser Seidenflor hatte das geschminkte Gesicht ihrer Feindin verhüllt.

Herr von Palmer mochte wohl den Herrschaften entgegenreisen, was aber veranlaßte die schöne Frau zu Besorgnissen?

Und endlich kam ihr Zug. Klaudine wartete ab, welches Abteil Frau von Berg nehmen würde, es waren nur zwei erster Klasse im Zuge. In das eine stieg Frau von Berg, so schritt sie auf das andere zu, das der Schaffner ihr sofort öffnete. Einen Augenblick überlegte sie noch. Dort saß ein Herr – sollte sie zweiter Klasse fahren?«

»Ist das Nichtraucherabteil zweiter Klasse frei?« fragte sie.

»Nein, es sind fünf Herren drinnen und eine Dame, und im Frauenabteil eine Familie mit Kindern.«

Sie stieg ein und nahm am Fenster Platz. Der Herr dort in der Ecke schlief, es war nichts von ihm zu sehen, als Mütze und Pelz und eine dunkelviolette Reisedecke. Nun, lange dauerte ja die Fahrt nicht mehr, zwei Stunden höchstens. Sie legte den blonden Kopf mit dem dunklen Pelzmützchen an die Kissen, sie war so müde, aber die rastlos weiterarbeitenden traurigen Gedanken ließen sie nicht schlafen. Die Herzogin würde sterben, dann hatte sie ein treues Herz verloren und ihre Freiheit gewonnen. Sobald am Begräbnistage die letzte Fackel gelöscht war, würde sie Lothar den Ring in die Hand legen und aufatmen. Ihre Brust hob sich, aber schon der Gedanke an dieses Aufatmen tat ihr weh. Ach, das Leben, das dann kommen würde! So farblos, so einförmig, das Leben eines armen adligen Fräuleins, das allmählich zur einsilbigen alten Jungfer wird. Und wenn Joachim sich nun wieder verheiratete? Wenn zu all der Freudlosigkeit auch noch das Bewußtsein des Überflüssigseins käme? Wenn dereinst Beate einem Mann folgte, fort aus dem stillen Paulinental? Ach nein, Joachim blieb ihr, mußte ihr bleiben. Wie sollte er in seiner Zurückgezogenheit, in seinem arbeitsvollen Dasein Zeit finden, um zu freien? Joachim blieb ihr und sein Kind. Sündhafte Mutlosigkeit war es, so zu denken. Sie hatte noch so viel, viel mehr als andere!

Sie setzte sich hoch, kerzengerade, und sah auf die flimmernden Eisblumen der gefrorenen Fensterscheiben. Dann zuckte sie tödlich erschreckt zusammen. In dem Rollen und Kreischen des Zuges, der eben kurz vor einer Haltestelle gebremst wurde, hatte sie nicht gehört, daß der Herr dort aufgestanden und herübergekommen war. Erst als sie fühlte, daß etwas ihren Mantel streifte, hatte sie aufgesehen – vor ihr saß Lothar.

»Also wirklich?« klang es herzlich. »Trotz des Schleiers erkannt! Aber, was spreche ich denn? Es gibt ja nur einmal dieses goldige Haar. Und Sie wollen auch nach der Residenz?« Es lag ein Ausdruck freudigster Überraschung in seinen Zügen. Unwillkürlich hatte seine Rechte gezuckt, als wollte sie eine dargebotene Hand erfassen.

Klaudine saß da, wie versteinert. Sie hatte sich merkwürdig rasch gefaßt.

»Ja«, erwiderte sie kurz, die Hand übersehend. Sie hielt die beiden ihrigen ineinandergeschlungen im Muff, als wollten sie sich gegenseitig festhalten. »Der Kammerherr von Schlotbach telegraphierte mir, daß die Herrschaften morgen eintreffen, und da habe ich mich gleich aufgemacht.«

»Aber, sagen Sie, wie geht's im Paulinental?« fragte er dann.

»Gut!« antwortete sie.

»Und meine Kleine?«

»Sie ist gesund, glaube ich.«

»Glauben Sie?« fragte er mit bitterer Betonung.

Eine Weile schwiegen beide. Der Zug hielt. Draußen knirschte der Schnee unter schweren Männertritten, irgendeine Tür wurde zugeschlagen, dann läutete die Glocke und schrillte die Pfeife und weiter rollte die Wagenreihe.

»Klaudine«, begann er zögernd, »ich habe vorgestern an Sie geschrieben. Der Brief wird heute früh im Eulenhause anlangen –«

Sie neigte flüchtig den Kopf, ohne ihn anzusehen.

»Ich war in einer furchtbaren Stimmung«, fuhr er fort, »stellen Sie sich vor, wie ich in dem alten, spärlich eingerichteten Schlosse hause, zwei Stunden von der nächsten Stadt, völlig eingeschneit. Ich bin vielleicht, naß wie eine Made, eben von einem Pirschgange zurückgekehrt, sitze neben einem rauchigen Kamine, der kaum wärmt, der Schneesturm tobt vor den Fenstern, und so allein bin ich, so furchtbar allein in dem öden Gebäude! Dazu habe ich dann zuweilen förmliche Visionen. Ich sehe die Neuhäuser Wohnstube, sehe meine Kleine drinnen spielen, höre ihr Jauchzen und meine ordentlich den Geruch von Bratäpfeln zu spüren, die um diese Jahreszeit nie in der Röhre des Kachelofens fehlen.« Er stockte einen Augenblick. »Und da denke ich, mein Gott, wozu sitzest du eigentlich hier in so trübseligen Gedanken? In einem solchen Augenblick stand ich vorgestern auf, holte meine Schreibmappe und schrieb, um Sie auf der Stelle zu fragen, ob –«

Sie fiel ihm fast heftig ins Wort.

»Weshalb fragen? Ich kann Sie nicht zwingen, Ihr Versprechen zu halten, habe auch wahrhaftig niemals verlangt, daß Sie nach Schloß ›Stein‹ gehen. Sie wußten ja sonst Berlin und Wien zu finden, oder Paris oder irgendeine große Stadt noch weiter entfernt.«

Er hatte sie ausreden lassen.

»Ich wollte Sie in dem Briefe fragen«, sprach er ruhig weiter, »soll denn die Komödie noch kein Ende nehmen, Klaudine? Es ist doch frevelhaft –«

Sie fuhr empor. Sprach er im Ernst?

»Das sagen Sie mir jetzt?« rief sie empört, »jetzt, wo die Entscheidung so nahe ist? Die Arme lebt vielleicht keine vierundzwanzig Stunden mehr! Haben Sie es so eilig, Ihre Freiheit wiederzuerlangen?«

»Sie sind sehr verbittert, Klaudine!« erwiderte er unwillig und doch klang es wie Mitleid aus seiner Stimme. »Aber Sie haben recht, angesichts der traurigen Tage, denen wir entgegengehen, sollte man nicht von diesen Dingen sprechen. Indessen –«

»Nein, nein! Sprechen Sie nicht davon!« pflichtete sie ihm aufatmend bei.

»Indessen kann ich nicht anders«, fuhr er unerbittlich fort. »Das neueste ist nämlich, daß Ihre Hoheit sich direkt an mich wandte.« Er nahm seine Brieftasche heraus und reichte ihr ein Schreiben. »Es ist besser, Sie lesen selbst.«

Klaudine machte eine abwehrende Bewegung.

»Es ist ein eigenhändiges Schreiben der Herzogin«, betonte er, ohne das Briefblatt zurückzuziehen, »die arme Frau verbittert sich ihre letzten Tage mit Sorgen. Wenn Sie gestatten, Cousine, lese ich es Ihnen vor.«

Und das blasse Mädchengesicht kaum mit dem Blicke streifend, begann er:

»Mein lieber Baron! Diese Zeilen schreibt Ihnen, nach langem innerem Kampf, eine Sterbende und bittet Sie, ihr nach Möglichkeit in einer überaus zarten Angelegenheit zu helfen.

Sagen Sie mir die Wahrheit auf eine Frage, deren Indiskretion Sie mir, die ich bald nicht mehr unter den Lebenden sein werde, verzeihen wollen. Lieben Sie Ihre Cousine? Wenn es nur ein Akt der Klugheit und Großmut war, ihre Hand zu erbitten, dann, Baron, geben Sie dem Mädchen die Freiheit zurück und seien Sie überzeugt, daß Sie dadurch die Zukunft zweier Menschen, die mir über alles teuer sind, glücklich gestalten werden.

Elisabeth.«

Die blauen Augen Klaudines starrten wie verzweifelt auf das kleine Briefblatt. Barmherziger Gott, was sollte das sein? War die Herzogin noch immer in dem alten schrecklichen Wahn, daß ihr Gatte sie liebe oder sie ihn? Oder hatte Prinzeß Helene sich ihr anvertraut, und die Herzogin wollte vermitteln zwischen Lothar und ihr?

»Und Sie?« klang es endlich gebrochen von ihren Lippen.

»Ich bin auf dem Wege, Ihrer Hoheit die Antwort zu bringen, Klaudine. Sie wissen selbst, hoffe ich, daß es von der Herzogin unnötig war, die Wahrheit zu fordern. Ich habe immer offen gehandelt während meines ganzen Lebens, nur einmal beging ich eine Täuschung, weil ich aus Zartgefühl nicht den Mut hatte, zu sprechen, weil ich glaubte, ein einmal gegebenes Wort einlösen zu müssen, und sollte es auf Kosten meines Lebensglückes geschehen. Lassen wir das, es ist begraben. Niemals haben mich seitdem irgendwelche Rücksichten gehindert, der vollsten Überzeugung gemäß zu handeln. Ich werde Ihrer Hoheit kurz erklären, daß –«

Ein leiser Schrei unterbrach ihn, flehend streckte Klaudine ihm die Hand entgegen, und ihre Augen starrten angstvoll in die seinen.

»Schweigen Sie, ich bin nicht die Herzogin!« stammelte sie.

Er hielt inne vor diesem verzweifelten Gebaren. Das Mädchen sprang empor und flüchtete nach der anderen Seite des Abteils.

In diesem Augenblick huschten Lichter vor dem Fenster vorüber, der Zug fuhr langsamer. In der trüben Dämmerung des Schneemorgens erkannte der Baron den Bahnhof der Residenz. Über der Stadt erhob sich grau die alte herzogliche Feste.

Klaudine war ausgestiegen, ehe er hinzuspringen konnte, um ihr behilflich zu sein. Ein fürstlicher Diener erwartete sie und ein Hofwagen. Als sie eilig hineinschlüpfte, stand Lothar am Schlag. In dem grauen, kalten Morgenlicht sah sein Gesicht ganz anders aus als vorher, es schien Klaudine, als wäre er seit den paar Monaten um Jahre gealtert.

»Ich bitte, Cousine, nennen Sie mir die Stunde für eine Unterredung«, forderte er mit höflicher Bestimmtheit.

»Morgen«, erwiderte sie.

»Morgen erst?«

»Ja!« entschied sie kurz.

Er trat, sich verbeugend, zurück, nahm wenige Minuten später in einem Gasthauswagen Platz und fuhr mit dem schwerfälligen Omnibus durch das Südertor, welches eben der fürstliche Wagen mit Klaudine in Windeseile passiert hatte.